»Ein Engel Leonoren«
Interview |
Beethovens einzige Oper beschäftigt Franz Welser-Möst ein Leben lang. Regelmäßig befragt er dieses Schlüsselwerk des Musiktheaterrepertoires, um ihm immer neue Antworten abzulauschen, die er dann mit dem Publikum teilt.
An der Wiener Staatsoper dirigierte er das Werk erstmals 2013, nun folgt hier die Fidelio-Premiere am 16. Dezember. Mit Andreas Láng sprach er unter anderem über Fidelio als philosophische Idee, musikalische Nervengeflechte im Orchesterpart, das Geben und Nehmen zwischen dem Dirigenten und dem Regisseur, das dramaturgisch begründete Fehlen eines echten Schlusspunkts und darüber, wie bereits winzige Interpretationsdetails Entscheidendes über Charaktere aussagen.
Sie haben bei einem der frühen Gespräche zu dieser Neuproduktion Fidelio als eine philosophische Idee bezeichnet. Liegt das eher am Stoff oder am Komponisten?
Wenn man sich mit Beethoven etwas intensiver auseinandersetzt, wird man erstens merken, dass viele seiner Werke philosophisch-politischen Ideen entspringen oder jedenfalls von ihnen angehaucht sind.
Ganz gleich, ob es sich beispielsweise um seine Eroica, seine fünfte oder neunte Symphonie mit Schillers Ode an die Freude handelt, um seine großen Klaviersonaten oder eben um Fidelio.
Und im Fidelio kommen zweitens so viele unterschiedliche Einflüsse zusammen – die Aufklärung, das Biedermeier, Sturm und Drang, die Romantik, der Symphoniker Beethoven, seine persönlichen Überzeugungen und Sehnsüchte – dass sich dieses Werk einem zu großen Realismus entzieht.
Es handelt sich, kurz gesagt, um keine Oper im landläufigen Sinn – und darum stellt dieze Partitur eine so große Herausforderung für Regisseure dar.
Schon rein formal gesehen, ist Fidelio ungewöhnlich: Am Beginn scheinbar Singspielartig, am Schluss nahezu ein Oratorium.
Beethoven hat immer wieder Grenzen gesprengt und das in jeder Hinsicht: Formal ebenso wie in der programmatischen Ausrichtung oder in den technischen Ansprüchen an die Interpreten. So auch hier im Fidelio.
Das war kein Selbstzweck, keine bloße Freude am Ausloten des Ungewohnten, sondern einer intellektuell-moralischen Überzeugung geschuldet. Der oft zitierte Satz »Von Herzen möge es wieder zu Herzen gehen«, den Beethoven der Missa solemnis voranstellte, hat nichts mit Sentimentalität zu tun, sondern atmet das Ideal seiner Zeit, das in allen Werken Beethovens mitzudenken ist: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
Ein Ideal freilich, das erst mühsam errungen werden muss. Nicht von ungefähr unterstreicht Beethoven im letzten Satz seiner 9. Symphonie in der G-Dur-Passage »Seid umschlungen Millionen« die Zeile »Über Sternen muss er wohnen« durch ein Fortissimo und einen markanten Tonartenwechsel nach dem symbolbehafteten Es-Dur. Beethoven interpretiert Schiller hier im Sinne von per aspera ad astra. Und gemäß dieser philosophischen Überzeugung Beethovens interpretieren wir Fidelio.
Unser Konzept symbolisiert dieses Immer-Größer-Werden, diesen mühsamen Weg zum Licht, zur Lichtgestalt, die sich hier in Leonore manifestiert. Schon darum greifen Schubladisierungen wie »der Beginn von Fidelio ist ein Singspiel, der Schluss wie ein Oratorium« zu kurz. Über eben dieses Missverständnis, die ersten Nummern nach der Ouvertüre als belanglos, nett dahinplätschernde Einleitungsnummern aufzufassen und gewissermaßen erst mit Leonores Arie so richtig im Fidelio anzukommen, haben Nikolaus Habjan und ich schon im Vorfeld viele Gespräche geführt.
Bei ihm werden diese Szenen, konkret das Eröffnungsduett Marzelline/Jaquino oder die Gold-Arie Roccos, nicht ins Läppische abgleiten, tradierte Charakterklischees nicht fortgeschrieben, sondern wird die Vielschichtigkeit jeder einzelnen Figur aufgezeigt. Habjan beweist, dass in allen etwas steckt, was dem Erreichen des erwähnten Ideals dient.
Wie kann der Dirigent diese Vielschichtigkeit der einzelnen Personen seinerseits zum Ausdruck bringen?
Oft schon durch winzige Details. Nehmen wir als Beispiel den Beginn nach der Ouvertüre, diese kurze Einleitung ins Duett: Man kann einfach darüber hinweggehen und es als leichtes Geplänkel abtun, oder schon das erste, aus vier Noten bestehende Motiv als Unruhe des Jaquino interpretieren.
Dadurch bekommen aber bereits diese vier Töne eine ganz spezielle atmosphärische Anmutung, die dem Publikum von Anfang an vermitteln soll, dass Jaquino eben kein simpler, holzschnittartiger Komödientypus ist, sondern eine charakterlich höchst ambivalente Figur, den Gefühle und Emotionen umtreiben.
Und wenn ich den Sänger des Rocco in dessen Arie »Hat man nicht auch Gold beineben« nach der kurzen Einleitung bewusst ein kleinwenig zu früh einsetzen lasse, spürt man dadurch automatisch die – von Habjan auch in der Inszenierung hervorgehobene – Gier Roccos, sein fast erotisches Verhältnis zum Geld. Und dadurch sind wir automatisch meilenweit von einer gemächlich-gemütlichen Spielopern-Arie entfernt.
Was macht denn gerade Leonore zur Lichtgestalt? Florestans Leistung, für die Wahrheit einzustehen und dafür zwei Jahre Haft unter unmenschlichen Bedingungen zu kassieren, ist ebenfalls nicht von schlechten Eltern.
Florestan hat Unrecht aufgedeckt, was ihn sicherlich als tugendhaft auszeichnet. Das ist nicht wenig. Aber Leonore ist in ihrem Individualismus eine Sturm-und-Drang-Figur par excellence: Gegen jede Vernunft, gegen jede Regel, gegen jede Gefahr, gegen jede Aussicht auf Erfolg entschließt sie sich, ihren Mann zu retten und geht dafür sogar in die Höhle des Löwen.
Und was befähigt sie dazu? Die Liebe, das Höchste, zu dem Menschen in der Lage sind. Das macht sie so bewundernswert, das erhebt sie zum Ideal.
Franz Welser-Möst und Nikolaus Habjan
Beethoven hatte in Summe zumindest 53 Opernprojekte angedacht, aber am Ende blieb es mit Fidelio bei einer einzigen realisierten Oper. Wo lag das Problem?
Beethoven hat mit der Gattung Musiktheater richtiggehend gerungen, da trafen in Wahrheit zwei Welten aufeinander. Schon sein Versuch, mit den Geschöpfe des Prometheus eine mythologisch-philosophische Figur als Ballett auf die Bühne zu bringen, hatte etwas Absurdes, das nicht funktionieren konnte.
Und mit der Oper, die aus dem Wechselspiel von Text und Musik lebt, konnte Beethoven, der seine Intentionen durch die reine Musik auszudrücken pflegte, von Vorneherein nur schwer zurechtkommen.
Ganz grundsätzlich stehen etwa Beethovens obligater rhythmischer Puls, der stets auf etwas hindrängt, den Hebungen und Senkungen bzw. dem Sprachfluss eines Librettos entgegen, und seine Komponierweise, ein großes Ganzes aus winzigen Motiven heraus zu entwickeln, passt von Haus aus nicht zum Grundcharakter einer Oper.
Aber mit Fidelio gelang Beethoven dann doch ein Wurf…
Und das trotz des drittklassigen Librettos. (lacht) So, wie sich alle späteren Komponisten an den Symphonien Beethovens maßen, galten im Opernbereich Mozarts Schöpfungen für viele als Vorbild.
Nicht umsonst nannte ein E.T.A. Hoffmann Don Giovanni »die Oper aller Opern«. Beethoven wusste dies und suchte nach einer Möglichkeit, sich auf andere Weise in dieser Gattung zurechtzufinden. Und was lag für ihn als großen Symphoniker näher, als – wie später Wagner zum Beispiel in Tristan und Isolde – das musikalische Nervengeflecht des Fidelio im Orchester aufzuspannen?
Dadurch werden hier wesentliche Dinge ausgesprochen, die auf der Bühne nicht oder nur bedingt zur Sprache kommen. Das merkt man schon in der zweiten Nummer, im schnellen C-Dur-Teil der Marzellinen-Arie: Die reinigende Kraft des Feuers der Aufklärung, das hier lodert, hat mit dem gesungenen Text in Wahrheit nichts zu tun, zeigt aber an, dass hier bereits die nächste Leonore heranwächst. Oder: Warum erklingen in der großen Leonoren-Arie gleich drei Hörner? Weil Beethoven direkt an seine Eroica anknüpft, in der die Hörner als heroisches Instrument geführt werden. Und das in der Liebes-Tonart E-Dur!
Beethoven drückt an dieser Stelle also nur durch die Musik aus, was ich vorhin schon sagte: dass das Heldentum Leonores erst durch die Liebe ermöglicht wird. Ich erinnere die Sängerinnen und Sänger bei den Proben regelmäßig daran, den Subtext in der Interpretation mitzudenken, weil erst dadurch im Publikum intuitiv zusätzliche Saiten zum Schwingen gebracht werden. Aber auch Nikolaus Habjan arbeitet, was ich sehr begrüße, szenisch immer wieder Aspekte heraus, die nur im Orchestergraben thematisiert werden.
In diesem Zusammenhang ist es zum Beispiel interessant, die letzten Takte der Partitur anzusehen: Anders als in der 5. Symphonie, wo Beethoven den Schlusspunkt richtiggehend zelebriert, fehlt er musikalisch im Fidelio. Alle jubeln, alles scheint wunderbar – aber das sonderbar abrupte musikalische Ende vermittelt etwas anderes. Offenbar ist das Ideal von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit trotz allem noch nicht Realität geworden, nicht einmal auf der Theaterbühne. Es bleibt Utopie.
»Das Großartige an Interpretation ist, dass man eine Beziehung eingeht mit einem Kunstwerk, und zwar jedes Mal von dem Standpunkt aus, an dem man sich gerade befindet.«
Anders als etwa beim Tannhäuser oder beim Fliegenden Holländer gibt es kaum eine Diskussion darüber, welche der drei Fidelio-Fassungen man aufführen sollte: Man spielt nahezu immer die letzte.
Sicher, aus historischen Gründen kann man das eine oder andere Mal die beiden früheren Fassungen zeigen. Passiert auch gelegentlich. Aber es ist einfach eine Tatsache, dass der Fidelio im Laufe des Arbeitsprozesses immer besser geworden ist. Warum also bei einem Work in Progress nicht den letzten, den besten Ist-Zustand aufführen?
Eine naheliegende Frage ist die nach der dritten Leonoren-Ouvertüre. Otto Nicolai hat sie erstmals in die Partitur eingefügt – wenn auch vor den zweiten Akt. Erst Gustav Mahler versetzte sie dann an den heute traditionellen Platz vor dem Schlussbild. Wird sie in dieser Neuproduktion ebenfalls erklingen?
Ich habe in meinem Leben ein einziges Mal auf sie verzichtet und dabei erkannt, dass das Finale diesen letzten Kick benötigt, um wirklich abzuheben. Durch die eingeschobene dritte Leonoren-Ouvertüre – und zwar genau an der Stelle, die Mahler gewählt hatte – gelingt die finale Fokussierung auf die vorhin besprochene philosophische Idee noch besser und ist damit sicherlich im Sinne Beethovens.
Inwieweit lernt man als Dirigent durch die Arbeit mit einem Regisseur Neues über ein Werk? Gibt es in Bezug auf Fidelio etwas, von dem Sie durch diese Neuproduktion sagen können: Das ist für mich eine echte Horizonterweiterung?
Das Großartige an Interpretation ist, dass man eine Beziehung eingeht mit einem Kunstwerk, und zwar jedes Mal von dem Standpunkt aus, an dem man sich gerade befindet. Die Beziehung verändert sich also.
Ich habe vor Kurzem Schuberts A-Dur-Sonate in einer Aufnahme mit Radu Lupu aus dessen mittleren Jahren und dann in einer deutlich später entstandenen Einspielung angehört. Dasselbe Stück, derselbe Interpret – und dennoch zwei sehr unterschiedliche Ergebnisse, die aber beide ihre Berechtigung haben.
2015 habe ich in Salzburg eine Fidelio-Neuproduktion in einer Inszenierung von Claus Guth geleitet, der einen sehr düsteren Blick auf das Stück geworfen hat. Jetzt, zehn Jahre später, treffe ich auf einen Regisseur, der mit einer unglaublichen jugendlichen Begeisterung, einem richtigen Enthusiasmus an die Partitur herangeht. Beides hat etwas mit meinem Zugang gemacht, da die Arbeit mit einem Regisseur natürlich auch das, was ich mache, beeinflusst.
Es handelt sich, wie so oft im Theater, um ein Geben und Nehmen. Selbstverständlich ist es nicht so, dass ich jetzt mit einem Mal manches um fünfzig Prozent schneller oder langsamer dirigiere. Aber ein neuer Blickpunkt ermöglicht mir, weitere Schichten in einem Werk zu entdecken und aufzuzeigen.
»Für mich als Dirigenten ist aber das größte Kompliment, wenn Menschen nach Fallen des Vorhangs nicht über meine Interpretation sprechen, sondern über das Stück.«
Mir fällt da Monets Kathedralen-Bildserie ein: Es ist immer die Kathedrale von Rouen mit demselben Bildausschnitt, aber durch die unterschiedlichen Lichtstimmungen entsteht jedes Mal ein anderer Eindruck…
Ähnliches erleben wir bei den Farbvariationsserien eines Andy Warhol. Im Grunde beschäftigen wir uns ja gerade deshalb immer wieder mit bestimmten Meisterwerken, weil veränderte Parameter immer neue Gewichtungen, neue Nuancen aufzeigen.
Nicht zuletzt beeinflussen der Geist der jeweiligen Epoche, die gesellschaftlichen Diskussionen, die gerade aktuellen Narrative unsere Sicht- und Interpretationsweisen. Der Fidelio ist diesbezüglich ein perfektes Beispiel, wie man allein an seiner Rezeptionsgeschichte – inklusive politischen Missbrauchs – an der Wiener Staatsoper sehen kann.
Oder denken Sie beispielsweise nur an die legendäre Dresdener Fidelio-Inszenierung von Christine Mielitz, 1989, also kurz vor dem Mauerfall. Die Stadt galt als Zentrale des DDR-Geheimdienstes, was Mielitz dazu inspirierte, in dieser Produktion dem gesamten Publikum das Gefühl zu geben, ebenfalls Insassen des Pizarro-Gefängnisses zu sein.
Sie ließ bei der Premiere sogar alle Tören abschließen, um diesen Eindruck zu verstärken. Dass unter den im Zuschauerraum natürlich ebenfalls anwesenden unterschiedlichen Geheimdienstlern nachweislich auch ein gewisser Wladimir Putin saß, verleiht der damaligen Premiere rückblickend zusätzliche Brisanz.
Jede Interpretation ist also immer auch ein Kind ihrer Zeit.
Wir können uns nun einmal nicht aus der Zeit ausklinken, in der wir leben. Aber es spiegeln sich nicht nur folgenschwere Ereignisse in einer Vorstellung wider. Bereits scheinbar Nebensächliches wie ein Wetterwechsel, der gesundheitliche Zustand eines Sängers, die Zusammensetzung des Publikums kann die Aufführung beeinflussen.
Wir Interpreten versuchen, einem Kunstwerk näher zu kommen, manchmal gelingt es besser, manchmal schlechter. Und da es eine ultimative Version nicht gibt, bleibt es immer nur ein Versuch. Für mich als Dirigenten ist aber das größte Kompliment, wenn Menschen nach dem Fallen des Vorhangs nicht über meine Interpretation sprechen, sondern über das Stück. Denn dann weiß ich, dass ich meiner Aufgabe, dem Publikum das Werk näher zu bringen, gerecht geworden bin.