Die Schwester der Marschallin?
Interview |
Wenn Marlis Petersen die Bühne betritt, weiß man eines schon im Vorhinein: dass nun echtes Musiktheater vom Feinsten folgen wird. Vokal und schauspielerisch gleichermaßen berückend, kreiert Petersen ungemein vielschichtige Rollenporträts, mit denen sie erstens Standards setzt und die zweitens Opernliebhaber ein Leben lang nicht mehr loslassen. Entsprechend groß ist auch die Vorfreude auf ihre Emilia Marty in Janáčeks Věc Makropulos. Denn wer, wenn nicht Petersen, ist die derzeit ideale Besetzung für diese überaus komplexe, rätselhafte, von allen umschwärmte Sängerin, die über eines der unfassbarsten Geheimnisse der Menschheit verfügt? Das folgende Gespräch mit der gefeierten Sopranistin führte Andreas Láng.
Auf die Frage, ob ein unendliches diesseitiges Leben erstrebenswert wäre, werden die meisten Menschen mit »Nein« antworten. Aber wie sieht es diesbezüglich im Falle einer Künstlerin aus? Man könnte ins Treffen führen, dass es zumindest für die Allgemeinheit ein Segen wäre, wenn sie mit ihrem Wirken wenigstens ein paar Jahrhunderte lang andere beglückte. Würde Sie dieser Gedanke dazu verlocken, das Rezept für die Unsterblichkeit wenigstens ein paar Generationen lang anzuwenden?
Eine große Frage, das stimmt, aber auch als Künstlerin antworte ich mit »Nein«. Natürlich hat die Vorstellung, unendlich zu leben, unendlich lange meinen Beruf als Sängerin auszuüben, auf den ersten Blick etwas Berauschendes. Aber bei näherem Hinsehen merkt man, dass sich augenblicklich Fragen auftun. Da sich jeder Mensch und auch jeder Künstler laufend weiterentwickelt –
und zum Teil nur durch die Erfahrungen des Älterwerdens weiterentwickeln kann –, gibt es gleich zwei problematische Möglichkeiten: Ich verharre in einem bestimmten Alter, weil ich jung, gesund und attraktiv bleiben will – dann wird aber mein menschliches (und künstlerisches) Reifen irgendwann gegen null tendieren. Oder ich werde laufend älter und mutiere langsam zu einem echten Methusalem oder einer Methusalema, was zwangsläufig zu einem immer beschwerlicheren Leben führt, das sicher nicht erstrebenswert ist. Dazu kommt, dass man sich in beiden Fällen irgendwann einmal hohl dreht, wie eine Schraube, die nicht mehr greift, weil man alles schon kennt, alles nur mehr als Variation und Wiederholung erlebt, kein Fortschreiten wahrnimmt. Die Seele kann in nichts Neues mehr hineinwachsen. Man verwaist regelrecht zwischen all den sich ähnelnden Generationen, die unentwegt aufeinanderfolgen.
Von Viktor Frankl gibt es den Ausspruch, dass es im Grunde nur einen technischen Fortschritt gäbe, die Menschheit sich aber, in großen Zeitabläufen besehen, nicht verändern würde.
Und wenn man das über Jahrhunderte beobachten kann oder muss, wird das langweilig. Auch Emilia Marty erkennt, dass sie immer dieselben Menschentypen trifft, die sich wiederum immer nur um sich selbst drehen. Nicht umsonst sagt sie am Ende zu den Umstehenden: »Ihr seid so glücklich, weil der dumme Zufall euch so früh sterben lässt!« Und das alles bedenkend, ist es eigentlich unwesentlich, ob ich Künstlerin bin oder nicht: Ein unendliches irdisches Leben ist auf Dauer unfruchtbar, langweilig und bringt nichts.
Ist das der Grund, warum Emilia Marty manchmal schlagartig so müde wirkt, obwohl sie äußerlich eigentlich jung ist?
Ja…, denn das Leben ist nur dann eines, wenn es unentwegter Veränderung unterworfen ist. Eine unendliche Wiederholung beinhaltet irgendwann nur mehr Leere. An einer Stelle im zweiten Akt sagt sie fast tröstlich zu Krista und Janek, also dem jungen Liebespaar, über deren Sexualleben: »Was nicht war, kann noch kommen«, um aber schon im nächsten Satz abzuschwächen: »Schließlich ist es nicht der Rede wert.« Worauf der alte Prus sofort fragt, was denn »schließlich der Rede wert wäre«. Und ihre resignierende Antwort »Nichts! Gar nichts!« drückt genau dieses Gefühl der absoluten Sinnlosigkeit des unendlichen Lebens aus. Nicht von ungefähr finden wir in der Bibel den Ausspruch: »Er starb satt an Lebenstagen.« Dieses »satt« ist genau der springende Punkt, denn irgendwann ist es genug. Der in Emilia verliebte Albert Gregor sagt einmal zu ihr: »Sie sind nichts als schön!« Das zeigt doch, wie klar sich ihre innere Leere den anderen unbewusst mitteilt.
Verhalten sich die meisten ihrer über die Jahrhunderte verteilten Liebhaber deshalb so aggressiv gegen sie? Sie beklagt ja an einer Stelle, von Narben übersät zu sein.
Emilia reagiert einfach niemals so, wie eine normale Frau das in Beziehungen tun würde. Sie ist nie greifbar im Hier und Jetzt. Der eine will mit ihr wegfahren – sie lacht nur darüber. Der andre will ihre Liebe – auch den lacht sie aus, weil das bei ihr schon längst nicht mehr greift. Und dieses Abgehoben-Entfernte macht viele Männer offenbar wild.
Wenn Emilia im Laufe ihres sehr langen Lebens erkennt, dass Unendlichkeit nicht das Paradies ist, warum will sie dann doch noch fast bis zum Schluss das geheimnisvolle Rezept zurückerhalten? Sie geht sogar mit dem alten Prus ins Bett dafür.
Wie Sie eingangs schon gesagt haben, möchte niemand unendlich lange hier auf Erden leben. Aber konkret im Jetzt, im aktuellen Moment sterben, will auch kaum jemand. Ich glaube, dass bei Emilia trotz aller Erkenntnis eine Art Panik mitschwingt. Sie will reflexhaft weiterleben, einfach aus Angst vor dem Moment des Sterbens. Aber wenn sie dann das Rezept endlich in den Händen hält, begreift sie die Sinnlosigkeit einer möglichen Fortsetzung ihres irdischen Daseins. Das ist bei uns Menschen ja oft der Fall: Wir wissen schon im Vorinein, unbewusst vielleicht, was gut oder falsch ist, aber es akzeptieren und danach handeln können wir erst, wenn Einschneidendes passiert.
Interessanterweise kommt die erwähnte junge Krista Jahrhunderte früher als Emilia Marty zur Erkenntnis, dass unendliches Leben nicht erstrebenswert ist und lehnt das ihr angebotene Lebensrezept nicht nur ab, sondern verbrennt es sogar.
Vielleicht wird sie durch Mitleid wissend, wie schon Parsifal vor ihr (lacht). Sie betont nämlich Emilia gegenüber, wie leid sie ihr tut. Das gibt es so unter Frauen, dass sie ohne viele Worte ein Verständnis entwickeln. Krista sieht an dieser alten Frau die Qual und das Nichthinauskönnen aus diesem Gefängnis der Unendlichkeit. Jedenfalls ist es eine tolle Tat von Krista, der Versuchung der Jahrhunderte zu widerstehen. Sie ist sehr erdverbunden!
»Ein unendliches irdisches Leben ist auf Dauer unfruchtbar, langweilig und bringt nichts.«
Ist die Emilia Marty letztendlich so etwas wie die Schwester der Marschallin im Rosenkavalier? Beide sinnieren über die Vergänglichkeit der Zeit und begreifen, dass man versuchen sollte, nichts festhalten zu wollen.
Es kann durchaus sein, dass Emilia ebenfalls schon in den Mittdreißigern, wie die Marschallin, diese Erkenntnis gewinnt. Nur muss sie dann noch drei Jahrhunderte über sich ergehen lassen – allein die Vorstellung ist schrecklich. (lacht)
»Wien ist vielleicht die einzige Stadt der Welt, in der Oper und Musik einen derart zentralen Stellenwert besitzen. Da bedeutet es von Vornherein etwas, wenn man in bestimmten Partien vor das Publikum tritt, vor ein wissendes, erfahrenes Publikum nämlich«.
Soll die Oper so wie die Schauspielvorlage komisch sein? Oder handelt es sich um eine Art Krimi? Um eine philosophische Abhandlung?
Janáček hat ein ganzes Panoptikum an Gestalten und Situationen gestaltet: Wir erleben das Hochromantische in Albert Gregors Liebe zu Emilia, das Kathartische am Ende der Oper und ganz eindeutig viel Humor und Komik. Denken wir nur an die skurrile Figur des alten Hauk-Šendorf –
was dieser Sonderling wohl für eine lustige Beziehung mit Emilia gehabt haben mag? Da ist bewusst unsere Fantasie als Publikum gefragt. Witzig ist auch die Szene im dritten Akt, in der Emilia vollkommen betrunken ihre Lebensgeschichte outet.
Sie braucht also den Alkohol, um zur Erkenntnis gelangen zu können?
Ich glaube, den Alkohol benötigt sie nur, damit ihre Zunge locker wird und sie das alles, was sie da gesteht, selbst nicht so ernst nimmt. In diesem betrunkenen Zustand wirkt sie erstmals menschlich, nahbar. Der Alkohol bringt also nicht die Erkenntnis, sondern die Entschärfung der Situation, die große Erleichterung für alle Beteiligten.
In Gounods Faust muss der Sänger der Titelpartie zunächst wie ein alter Mann klingen und dann, nach der Verwandlung durch den Trank Mephistos, zu einem jungen Mann werden. Bei der Marty ist das umgekehrt: Aus der jungen Frau wird am Ende schlagartig eine Greisin. Soll diese Verwandlung auch stimmlich beglaubigt werden?
Tatsächlich schenkt uns Janáček in diesem Ende eine Art sphärische Anmutung. Das heißt, die musikalische Grundstimmung ist von Vornherein eine andere als während der gesamten Oper zuvor. Und natürlich möchte ich die physische Verwandlung und die finale Erkenntnis der Emilia auch stimmlich zum Ausdruck bringen. Sie sollte an dieser Stelle zerbrechlicher, verhauchter klingen, wie in einem Nebel oder einer Wolke. Aber das ist etwas, was in den Proben mit dem Dirigenten entwickelt wird.
Das tschechische Original dieser Oper teilt sich dem Publikum nur bedingt mit. Wäre es nicht sinnvoller, das Werk immer in der jeweiligen Landessprache zu geben?
Eine sehr gute Frage, denn Věc Makropulos ist die Gesprächsoper Janáčeks schlechthin und ohne Übersetzung superschwierig fürs Publikum. Erstens, weil die Musik nicht immer leicht zu hören ist und zweitens, weil die zahllosen langen Diskussionen der Handelnden über lange Strecken das Geschehen dominieren. Andererseits ist das Tschechische auch eine ganz bestimmte Farbe, die wegfiele, wenn man das Stück in einer anderen Sprache sänge. Und diese Farbe ist nun einmal ein wesentlicher Bestandteil dieser Oper. Es kommt also sehr auf die Regie und vor allem auf eine sehr ausgefeilte Beleuchtung an, ob sich essenzielle Momente und Nuancen, unabhängig von der Sprache, also rein atmosphärisch und emotional, dem Publikum mitteilen oder nicht. Dass an der Wiener Staatsoper jeder Platz mit einer Untertitelungsmöglichkeit ausgestattet wurde, ist natürlich von großem Vorteil!
Sie haben die Partie schon gesungen: Wie unterscheiden sich die drei Akte hinsichtlich der Herausforderungen?
Im ersten Akt richtet sich der Fokus vor allem auf das Sprachliche, da sehr viel an inhaltlichen Details verhandelt wird. Im zweiten Akt hingegen muss es gelingen, diesen Snobby-Charakter der Emilia zu treffen, mit dem sie alle rund um sich auflaufen lässt. Am spannendsten, aber auch am schwierigsten ist für die Emilia-Interpretin der dritte Akt, da von der Handlung her wie musikalisch Unterschiedliches aufeinandertrifft: Emilia hat gerade die Nacht mit dem alten Prus hinter sich gebracht, bekommt endlich das von ihr so begehrte Rezept wieder, erkennt, dass sie es gar nicht will, legt vor allen ihr Geständnis ab und dann kommt noch dieses sphärisch-traurige Erlösungs-Ende: Das alles ist sehr herausfordernd – stimmlich, sprachlich und energetisch.
Sie singen seit 2002 an der Wiener Staatsoper, zuletzt vor vier Jahren die Marschallin. Welche Erinnerungen, welche Gefühle verbinden Sie mit diesem Haus?
Ich bin sehr dankbar, dass ich mein Debüt auf dieser Bühne mit einer Rolle geben durfte, die mir auf den Leib geschneidert war: mit der Lulu. Das war, wie Sie sich vorstellen können, ein riesengroßer Moment für mich. Aber da die Lulu keinem bestimmten Fach angehört, war es nicht so ganz klar, wie es hier weitergehen sollte. Es gibt ja Lulus, die eher in Richtung Rosenkavalier-Sophie unterwegs sind, und Lulus, die auch eine Salome machen können. Ioan Holender, der damalige Direktor, hat länger überlegt und mir dann die Sophie angeboten. Deutlich später kam dann unter anderem die Marschallin –
ein weiterer großer Moment – denn spätestens mit dieser Rolle durfte ich in die große Traditionsgeschichte dieses Hauses eintreten. Wissen Sie, Wien ist vielleicht die einzige Stadt der Welt, in der Oper und Musik einen derart zentralen Stellenwert besitzen. Da bedeutet es von Vornherein etwas, wenn man in bestimmten Partien vor das Publikum tritt, vor ein wissendes, erfahrenes Publikum nämlich. Entsprechend wichtig war es für mich daher auch, bei der Uraufführung von Aribert Reimanns Medea die Titelpartie gestalten zu dürfen. Mit anderen Worten: Die Wiener Staatsoper bescherte mir immer Höhepunkte in meinem künstlerischen Leben. Und so bin ich sehr glücklich, nach einer gewissen Transformationszeit, einer Metamorphose als Sängerin, jetzt mit einer wirklich tollen Rolle zurückkehren zu dürfen.