Die Oper als zentrale Metapher für Österreich
Vom Haus |
Diesem Jahrestag, auch eingedenk der davor stattgefundenen Geschichte, einschließlich der dunklen Jahre von 1938 bis 1945, widmet die Staatsoper heuer ihre besondere Aufmerksamkeit. Begonnen vom ersten Opern-Air im Burggarten bis zum Fidelio im Dezember dieses Jahres, findet eine Auseinandersetzung auf mehreren Ebenen statt. Unter anderem entstand eine ORF-Dokumentation, die am 5. November in ORF 2 (22.30 Uhr) zu sehen ist. Für diese war der Autor, Journalist und Zeithistoriker Gerald Heidegger gemeinsam mit der Regisseurin Alexandra Venier und einem Filmteam ausführlich in der Staatsoper unterwegs. Mit Gerald Heidegger sprachen Andreas Láng und Oliver Láng über Identität, Geschichte und den Mut zum ehrlichen Stolz.
Sie sind seit Langem ein guter Kenner der Wiener Staatsoper, haben das Haus und den Betrieb im Zuge einer von Ihnen mitverantworteten ORF-Filmdokumentation aber noch einmal ganz anders, nämlich aus nächster Nähe, kennengelernt. Was fällt Ihnen im Zuge dieser Innenschau zum Jahrestag der Wiedereröffnung, den 5. November, als Erstes ein?
Mich fasziniert der Blick auf ein Bauwerk, von dem die Allgemeinheit meint, dass es immer schon so ausgesehen hat wie im Moment der Wiedereröffnung 1955. Das ist fast wie in David Lynchs Lost Highway, wenn der Film auf sich selbst zurückgreift. Ebenso greift die Wiener Oper im Anspruch und im Vorwärtsgehen auf sich selbst zurück, im Hinblick auf ein Da-kommen-wir-her. Das hat viel mit einem österreichischen Identitätsstiftungsverfahren zu tun, das immer auf etwas rekurriert, was man nicht genau benennen kann. Etwas, das eigentlich nur eine imaginierte Gemeinschaft verstehen, weil spüren kann. Für mich ist die Oper eine zentrale Metapher für vieles in Österreich, auch für das für die Zweite Republik so wichtig gewordene Unterscheidungskapitel von den Deutschen. Es hat damit zu tun, dass man sich von einer historischen Schuld distanzieren zu können meint, gleichzeitig aber doch etwas Neues finden und erfinden will. Das hat Vorläufer: Nach dem angeblichen St.-Germain-Diktum »L’Autriche c’est ce qui reste« begannen die Mechanismen der Identitätsfindung, die aber zahlreiche Brüche aufwies und rasch unter Druck kam. Vielleicht war der November 1955 die Stunde Null 2.0. Man dachte: Und jetzt machen wir noch einmal ein neues Narrativ auf und blicken nach vorne.
Die Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper war auch ein großes internationales Ereignis. Man stand im Rampenlicht.
Ich glaube, dass es für die österreichische Identitätsfindung wichtig war, dass die Welt hergeschaut hat. Das drückt schon der Innenraum der wiederaufgebauten Oper aus. Wir haben – entgegen mancher Planung – kein Rangtheater, sondern noch einmal das historische Logentheater. Und in diesen Logen sitzen die verschiedenen Vertreter der Welt: die reichen Amerikaner, die Sowjets, da sitzt Schostakowitsch, die Briten, die Franzosen – und alle schauen auf uns, und wir versuchen, sie mit unserem Stolz anzustecken. Damit dieser Stolz aber nach vorne schauen kann, muss er etwas mobilisieren. Und was er mobilisiert: das ist die Kultur.
Nur die Wiener Kultur?
Es gibt den Versuch, Wien ein bisschen als ein Geschenk an ganz Österreich zu zelebrieren. Im Sinne von: Seid’s nicht so gegen Wien und gegen diesen Wasserkopf, seid’s doch stolz auf das, worauf die Welt schaut. Aber das Einüben einer Österreich-Identität zieht sich durchaus quer über das ganze Land. Also: Wir sind stolz auf die Staatsoper, wir sind aber auch stolz auf die Salzburger Festspiele, das Goldene Dachl, die Bregenzer Festspiele und, und, und. Österreich entdeckt 1955, dass die Kultur einfach so ein wahnsinnig guter Motor ist, um aus der Vergangenheit herauszukommen – mit den guten und natürlich auch mit den verdrängenden Seiten.
Ist das etwas speziell Österreichisches oder läuft es im Grunde in jedem Land so? Die griechische Antike, inklusive Akropolis, wird auch in jedem Tourismuskatalog propagiert. Vielleicht ist die Identitätsschöpfung eine Grundfunktion der Kultur – dass man aus dem Immateriellen, aus einer mehr oder weniger genau definierten Vergangenheit eine Identität ableitet.
Ich glaube, dass andere Länder sich natürlich ebenso verhalten. In meinem Buch Österreicher bist du erst in Jesolo. Eine Identitätssuche versuchte ich zu zeigen, dass die Italiener und die Österreicher im Versuch, über die Kunst Identität zu verhandeln, große Ähnlichkeiten aufweisen. Im Falle Italiens konnte man so manches an der Zensur, an einem Herrschaftssystem, vorbeischummeln. Und bei uns war es einst genuin österreichisch, im Hinblick auf ein entstehendes, neues, großes deutsches Reich, seine Identität durch die Kunst zu unterstreichen. Und deshalb ist die Staatsoper, wie sie seit 1955 aussieht, so genial. In den Farbcodes des Innenraums wurde das Schwarz der Nazis eliminiert; dafür erfolgte ein Rückgriff auf die Monarchie – es kam Gold dazu, und das Weiß wurde zu Elfenbein. Das wirkt erlesen und edel, und man muss Erich Boltenstern, der diesen Identitäts-Auftrag lesen konnte, Bewunderung für seine Gestaltung zollen. Ich persönlich empfinde die 1955er-Oper schöner als den ursprünglichen, alles umfassen wollenden 1869er-Byzantinismus, den der Innenraum ausgestrahlt hat. Genau darauf bezog sich die nicht unberechtigte Kritik des 19. Jahrhunderts: dass man alles sein wollte und doch am Ende kein Statement setzte.
Sie waren für die Dokumentation auch ausführlich hinter den Kulissen unterwegs. Ist das eines der Ziele des Films – den Blick des Zuschauers zu erweitern und die Welt hinter der sichtbaren Bühnenwelt zu zeigen?
Die Staatsoper ist eine der großen letzten Maschinerien zwischen dem Analogen und dem Digitalen, und man kommt – wie ein Kind – aus dem Staunen nicht heraus. Sobald man einen Fuß über diese Schwelle gesetzt hat, spürt man nicht nur dieses Mythisch-Heilige, sondern sieht, dass das Ganze wie ein riesiger Zauberkasten ist, in den man hineintritt. Das verwandelt einen. Und plötzlich, bei aller kritischen Distanz, hat man das Gefühl: Jetzt gehöre ich irgendwie auch dazu.
Diese Dimensionen zu zeigen, aber ebenso diese unglaubliche Hingabe der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – das ist natürlich auch Teil der Dokumentation. Denn die Begeisterung, mit der alle quer durch das Haus beim Film mitgemacht haben, und dass wir so willkommen geheißen wurden: das war beeindruckend.
Kann man auf alte Erzählformen zurückgreifen, um einer neuen Generation dieses Wunder Oper begreifbar zu machen? Oder braucht es doch ein neues Narrativ, um die Sache im Heute weiterzutragen?
Man muss sich schon bewusst sein, dass natürlich niemals alle in die Oper gegangen sind – selbstverständlich nicht im 18., nicht im 19. und nicht im 20. Jahrhundert. Aber zumindest war die Oper nach 1955 eine Bastion, zu der fast jeder eine Meinung hatte. Peter Marboe hat das sehr pointiert über einen Polizisten erzählt, der einen bei Rot über die Kreuzung eilenden Passanten nicht mit einem Strafzettel belegt, sondern ihn mit den Worten antrieb: »Na, wenn Sie Der Rosenkavalier noch pünktlich erreichen wollen, dann müssen Sie sich jetzt aber wirklich beeilen.«
In dieser Geschichte steckt atmosphärisch schon viel Wahres – und dieses Bewusstsein muss sich das Haus erhalten. Dieses Zugehörigkeitsgefühl bringt die Oper schon auf den Stellenwert eines Fußballländermatches – mit dem Vorteil, dass die Oper viel öfter als Gewinnerin hervorgehen kann als die Nationalmannschaft. Die Kunst ist nun, diese Verankerung in eine neue Zeit zu tragen und Schwellenangst zu nehmen. Denn die Oper darf nicht in einem touristischen Pflichttermin erstarren.
In dem angesprochenen Gefühl, eine Meinung zur Oper zu haben – selbst wenn man vielleicht gar kein Stammbesucher ist – schwingt da auch ein Stolz mit? So ein: Damit sind wir der Welt wichtig?
Wenn wir in einer Gegenwart leben, in der über soziale Medien so stark mit Angst und Neid gearbeitet wird, darf als Gegengewicht auch ein Stolz mitspielen. Ich komme jetzt wieder auf das Fußballstadion zurück, in dem Besucherinnen und Besucher ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten aufeinandertreffen. Das, was alle eint, ist der Stolz auf den Verein, die Mannschaft oder die Farben.
Wenn dieser Stolz ehrlich auf sich schaut und etwas »Gesundes« hat, soll er ja sein dürfen. Mehr noch: Er ist eigentlich der Motor, der das alles antreibt. Ich kann da aus meiner Familiengeschichte erzählen. Meine Oma bat einst Marcel Prawy, ihr zu einem Opernabo zu verhelfen – und er hat sich tatsächlich dafür eingesetzt. Da trafen also zwei Menschen mit absolut unterschiedlichen Biografien aufeinander und hatten ein gemeinsames Interesse.
Und als meine Oma schließlich auf der Galerie Platz genommen hatte, fühlte sie: Durch dieses Abo habe ich es – nach allen Entbehrungen – geschafft. Die Oper steht also auch für die Anstrengung einer stolzen, aus keiner bildungsbürgerlichen Schicht kommenden Frau, zu etwas dazugehören zu wollen. Und so glaube ich, dass der Stolz, sofern er ein ehrlicher Stolz ist, das Movens sein kann, ein Gebäude wie dieses über sich hinaus strahlen zu lassen.
Aber ist dieser Stolz die andere Seite eines Minderwertigkeitskomplexes? Die Fokussierung auf ein Symbol wie die Staatsoper – gewissermaßen das Gegenstück?
Ich würde es so formulieren: Vielleicht hat die Staatsoper als Zentralgebäude in einem österreichischen Wirklichkeitssinn einen Platz. Und vielleicht ist Österreich genauso groß, wie es eben groß ist, und weiß um seine Bedeutung, seine Geschichte. Womöglich kann sich Österreich im 21. Jahrhundert ein Stück weit selbst akzeptieren.
Ich glaube, dass unsere Kinder mit dem Wort Minderwertigkeitsgefühl nichts mehr anfangen können, weil sie einfach schon weiter von einzelnen geschichtlichen Momenten entfernt sind – und weil sie vielleicht eher Städte miteinander vergleichen als Länder.
Immer, wenn Zeitzeuginnen des 5. November 1955 über die enorme emotionale Ergriffenheit dieses Abends sprechen, fragen wir uns, ob und womit dieses Ereignis heute vergleichbar sein könnte. Uns fiel bislang wenig ein. Dass man in einer Gemeinschaft vor einem Lautsprecher saß – dieses Hochgefühl, das gemeinsame Miterleben – das war erstaunlich exemplarisch.
Mir fällt die Geschichte ein, die der ehemalige ORF-Generalintendant Gerd Bacher ihm vertrauten Personen erzählt hat. Als er 1945 auf dem Dach eines Kohlezugs vom Rheinland nach Salzburg gefahren ist und die zerstörte Landschaft sah, fragte er sich sehr skeptisch: Ob das jemals wieder etwas wird?
Wenn man also das wüste Land 1945 erlebt hat und dann 1955 wieder ein Weg sichtbar wurde, war das zweifelsohne eine sehr große Befreiung. Vielleicht kann man das mit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 vergleichen, den ich als sehr großes Ereignis in Erinnerung habe.
Das Entscheidende wird für uns aber sein, diesen 1955er-Gedanken weiterzutragen und zu erklären, warum dieses Datum in der Geschichte unseres Landes so ein wichtiger Ort ist. Also: Vielleicht müssen wir weniger nach vergleichbaren Festen als nach Vermittlungssprachen suchen.
Im Idealfall ist die TV-Dokumentation ein infektiöser Stoff, der möglichst viele Menschen ansteckt.
Zum indessen hoffen wir das. Ich komme noch einmal zum Stolz: Es ist die Geschichte eines ehrlich gemeinten Stolzes, den man nur zeigen kann, wenn man die ganze Geschichte kennt und erzählt.
Zwei Dinge waren uns wichtig: das Aussprechen der Wahrheit und gleichzeitig eine Bewunderung dessen, was mit diesem Haus gelungen ist.
Allein dass Verdi und Wagner in den 1870er-Jahren hier dirigiert haben, ist doch ein fantastischer Gedanke – fast wie die Reliquie in einer Kirche: Irgendwo, denkt man sich, ist ihr Geist noch da.
Auf der anderen Seite gibt es immer das ganz Aktuelle: Die Zauberflöte für Kinder – das vermittelt eine ganz direkte Seite einer Begeisterung.
An diesen Scharnieren springt das Gefühl auf – und tut seine Wirkung.
Wie aber feiert man einen Mythos, dessen Geheimnis ja auch im Unerklärbaren und Übergroßen liegt? Wie bekommt man ihn in eine handlich erzählbare Form?
Also, wenn man sich in Österreich in einer Sache eigentlich nichts fragen muss, dann, wie man feiert.
Ich glaube, die Staatsoper macht es auf ihre Art richtig – mit Rückgriffen auf das, was groß ist, und mit dem Erzählen dessen, was wirklich passiert ist.
Und je weiter sie ihre Arme ausbreitet – wie etwa beim Opern Air im Burggarten –, desto mehr Leute werden sich verbunden und eingeladen fühlen.