Der Mann, der niemals kein Musiker ist

Debüt |

Wie der Tenor Clay Hilley zur Musik und zu Richard Wagner fand – und was seine Großmutter damit zu tun hat.

Als Clay Hilley zum ersten Mal Wagner hörte, musste er das Auto kurz rechts ranfahren. Und wenn er in der Sängergarderobe davon erzählt, packt es ihn immer noch: Tam-Tam, Tam-Tam, tarararatata! Plötzlich ist er ein ganzes Orchester inklusive Dirigent: Tam-Tam! Tam-ta-taaa… Man hört beeindruckt zu, eine kleine Privatvorstellung, vor allem aber: ein glühendes Bekenntnis. Für allfällige Nachahmer – bei der CD handelte es sich um einen Querschnitt von Wagners Ring des Nibelungen, in der berühmten Aufnahme von Sir Georg Solti. Und das zitierte Tam-Tam? Siegfrieds Trauermarsch aus der Götterdämmerung. Hilley zu seinem damaligen Wagner-Erweckungserlebnis: »Ich dachte nur: Was, was habe ich da gerade erlebt? Ich war überwältigt. Überrannt. Von der Größe, der Fülle, der Spannung. Und mir ging durch den Kopf: Wie das wohl war, als diese Musik überhaupt zum ersten Mal erklang? Was sich das Publikum gedacht hat? Einfach verrückt!«


Und dabei war Clay Hilley zu diesem Zeitpunkt bei Weitem kein Neuling in Sachen Musik oder Oper. Als Teenager lernte er Klavier und Trompete, war in der Schulband, und da alle seine Freunde im Chor der Highschool sangen, probierte er es auch. Und siehe da: ein Naturtalent! »Ich habe nie zuvor mehrstimmig gesungen, aber es machte mir total Spaß. Und je mehr ich im Chor sang, desto öfter sagten meine Freunde: ›Hey Mann, nimmst du eigentlich Gesangsunterricht oder so?‹ Was ich bis dahin nicht tat.« 
Dann kam der erste Soloauftritt: der Kapitän in Gilbert und Sullivans H.M.S. Pinafore an der Highschool. »Ich sang daheim nie – und meine Eltern, die zur Aufführung kamen, dachten daher, ich würde zu einer Aufnahme einfach nur die Lippen bewegen. Denn ich habe zu Hause ständig Klavier gespielt, klar, aber gesungen? Nein.« Die Vorstellung wurde zum Wendepunkt: »Genau da fing es an – da fing ich an, richtig Spaß daran zu finden, auf der Bühne zu stehen und zu singen.«

Wo aber kommt das Talent her, das sich so unbeirrt den Weg bahnte? »Ich stamme aus keiner musikalischen Familie. Aber die Musik ... ja, die hatte ich irgendwie einfach in mir. Und es gibt die kleine Geschichte, dass meine Großmutter – noch bevor ich geboren wurde – darum gebetet hat, ein musikalisches Enkelkind zu haben. Vielleicht bin ich das ja. Vielleicht ist es so. Wer weiß?« Es folgen Zwischenstationen: das Studium der Musikpädagogik (damit er einen »sicheren« Beruf hat), der Chor der universitätseigenen Operntruppe, in dem er Giacomo Puccinis La bohème kennenlernt. Dann das Gesangsstudium und ein rascher Start. Mit 26 singt er »ziemlich große Sachen«, Pinkerton in Madama Butterfly und Don José in Carmen. »Das ist für viele in dem Alter schon schweres Repertoire. Aber ich habe einfach damit weitergemacht.« 


Irgendwann beginnt man ihn auf Wagner-Partien anzusprechen, und mit 31 Jahren springt er spontan bei einem Konzert als Siegmund in der Walküre ein. »Meinen ersten Wagner habe ich aus Noten, fast von Blatt gesungen.« Zur gleichen Zeit findet er einen Lehrer – Jon Frederic West –, der ihn unter die Fittiche nimmt und bis heute betreut. Ein Tenor übrigens, der auch an der Wiener Staatsoper Tannhäuser, Otello, Tristan, Bacchus in Ariadne auf Naxos und Kaiser in Die Frau ohne Schatten gesungen hat. »Jon meinte: ›Clay, du bist ganz nah dran. Du bist wirklich kurz davor, das alles zu meistern. Ich möchte dir dazu etwas mitgeben. Denn dieses große, gefährliche Repertoire kann man nur von jemandem lernen, der es selbst gemacht hat.‹ Und er sagte: ›Komm einfach. Leb eine Woche bei mir. Wir arbeiten jeden Tag – so viel oder so wenig, wie du willst. Wir essen zusammen, wir reden, du lebst einfach bei uns. Ganz im alten Stil: Mentor und Mentee, wie ein Lehrling beim Meister.‹« Das war 2015. Seither verbringt Clay Hilley jedes Jahr eine Woche bei West, lernt neue Rollen, überarbeitet Bekanntes.

»Ich bin Musiker. Ich bin eigentlich immer Musiker – auch wenn ich gerade nicht auf der Probe bin.«

Und dann? Eine steile Karriere, die ihn um die Welt führt. Bayreuth, Berlin, München, das Royal Opera House, Covent Garden in London, Hamburg, Baden-Baden, Edinburgh, Amsterdam… Und Rollen wie Siegfried, Florestan, Bacchus, Kaiser, Tambourmajor, Tristan, Calaf, Parsifal, Tannhäuser. Mit letzterer Partie wird er im Haus am Ring debütieren (sein Vor-Debüt gab er mit Siegmunds »Winterstürme wichen dem Wonnemond« bei der Saisonpräsentation 2025/26).

Wer aber ist dieser Tannhäuser für ihn? »Einer, der sucht, der nirgendwo hineinpasst, nicht in die Venus-Welt, aber auch nicht zu den anderen. Er kommt nie wirklich an, er sucht immer nach etwas anderem. Er ist in gewisser Weise ein bisschen wie Siegfried – in dem Sinne, dass ihm Autoritäten nicht viel bedeuten. Und ich werde viel von meinem eigenen Siegfried in diese Rolle einbringen, also ihn jung, ein bisschen naiv, fast kindlich zeigen.« Sagt er und nimmt einen Zug aus seinem 1-Liter-Stanley-Cup, in dem sich ein mit Elektrolyten angereichertes Getränk befindet, das seine Stimme unterstützt und sie gegen den Staub auf (Probe-)Bühnen  schützt. Was zu der letzten Frage führt: Ist die Musik, der Gesang eigentlich immer gegenwärtig? 

Ist Clay Hilley ein Pavarotti, der all seine Zeit in die Vervollkommnung investiert? Der Tenor dazu: »Ich bin Musiker. Ich bin eigentlich immer Musiker – auch wenn ich gerade nicht auf der Probe bin. Aber dennoch beschäftige ich mich in meiner Freizeit nicht aktiv mit Musik. Denn ich probe und übe so intensiv, so konzentriert, dass ich meinen Kopf manchmal entlasten muss und Raum brauche, um an etwas anderes zu denken. Aber dennoch: Kein Musiker – das bin ich nie.«