Angst ist der Spiegel dessen, was uns wertvoll ist
Interview |
Francis Poulencs »Dialogues des Carmélites« erzählt von sechzehn Karmelitinnen, die während der Französischen Revolution den Märtyrertod erleiden. Im Zentrum steht Blanche de la Force – eine junge Frau, die in einer Welt der Angst lebt und versucht, in der Religion Halt zu finden. Mit der Philosophin Bärbel Frischmann sprach Janine Ortiz über die anthropologischen, politischen und spirituellen Dimensionen der Angst.
Janine Ortiz: Frau Frischmann, Sie haben sich intensiv mit der Philosophie und Kulturgeschichte der Angst beschäftigt. Warum ist Angst ein so universelles Menschheitsthema, das in allen Epochen wiederkehrt?
Bärbel Frischmann: Angst gehört zu den Grundbefindlichkeiten des Menschen. Sie beruht darauf, dass wir uns mögliche Gefahren vorstellen und deshalb in der Lage sind, uns frühzeitig gegen mögliche Bedrohungen zu wapnen. Angst ist also nicht Schwäche, sondern Bedingung dafür, dass wir überleben. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass Angst diese warnende Funktion dadurch ausübt, dass sie als unangenehm und belastend empfunden wird. Denn gerade deshalb versuchen wir das zu meiden, was die Ängste auslöst, also die potenzielle Gefahr.
JO: In den Dialogues des Carmélites spielt Angst eine große Rolle. Welche Arten von Angst sehen Sie dort?
BF: Ängste können wir zu allen Arten von Bedrohungen entwickeln, die wir uns überhaupt jeweils vorstellen können. In den Dialogues lassen sich drei wichtige Ebenen von Angst identifizieren, die sich jeweils wechselseitig verstärken: Zum einen herrscht aufgrund der politischen Ereignisse der Revolution eine gesellschaftliche Atmosphäre der Unruhe und Unsicherheit, die sich bis zu Massenpaniken steigern kann. Zum zweiten spielt die Religion eine wichtige Rolle, die einerseits in der Gottesfurcht und auch in der Angst vor der Hölle eigene Formen der Angst entwickelt hat, die aber im Glauben auch die Möglichkeit bereithält, die eigenen Ängste zu beherrschen und auf Gottes Gnade zu vertrauen. Und schließlich gibt es die individuelle psychische Disposition jedes Menschen mit einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Ängstlichkeit.
JO: Schauen wir auf die Biografie der Hauptfigur Blanche. Ihre Mutter war hochschwanger in eine Massenpanik geraten, brachte dann ihre Tochter unmittelbar nach diesem Schockerlebnis zur Welt und starb nach der Geburt. Der Vater und der Bruder tragen dieses Trauma weiter. Sind solche »Urszenen« prägend für ein Leben mit Angst?
BF: Heute wissen wir aus der Epigenetik, dass traumatische Erfahrungen der Mutter während der Schwangerschaft biologische Spuren beim Fötus hinterlassen können, was sich im späteren Leben oft als eine größere Ängstlichkeit zeigt. Hinzu kommen soziale Stimmungen: Wenn eine Familie oder eine Gesellschaft vom Gefühl großen Unheils geprägt ist, können sich bei den einzelnen Personen auch eher Ängste ausbilden. In der Persönlichkeit Blanches überlagern sich die psychische Grundverfassung, das Familiäre und das Politische. Die Angst ist von Beginn an Teil ihrer Identität – etwas, das sie erst zu verstehen und dann für ihr Leben anzunehmen versucht.
JO: Nach ihrem Eintritt ins Kloster nennt sich Blanche »Schwester Blanche von der Todesangst Christi«. Wie verändert sich Angst, wenn sie religiös gedeutet wird?
BF: In dieser Namenswahl steckt eine doppelte Dimension, die etwas mit der Figur Jesu zu tun hat. Jesus ist einerseits Mensch, und als solcher hat auch er vor der Kreuzigung Todesangst. Andererseits ist er Gottes Sohn und vertraut darauf, dass er errettet wird. Blanche nimmt diese Spannung in sich auf. Religion bietet die Hoffnung auf ein Heil jenseits der irdischen Bedrohungen, vor allem angesichts der Auswüchse der Revolution. Der Glaube hilft, die Angst anzunehmen und zu verwandeln; nicht, sie zu vernichten, sondern durch Hoffnung auf ein jenseitiges Heil hin anzunehmen. In diesem Sinne ist für Blanche der Glaube eine Form der Angstbewältigung, die das Leben nicht verdrängt, sondern ihm Tiefe verleiht.
Man sieht das besonders deutlich in der Schlussszene, wenn die Nonnen singend zur Giullotine schreiten: Ihr Gesang verwandelt Todesangst in Vertrauen. Das ist keine Verdrängung, sondern eine bewusste Transformation der Angst – sie erheben sich spirituell über das Hier und Jetzt und werden nicht mehr von der Angst beherrscht, sondern beherrschen die Angst.
JO: Sie haben einmal gesagt, Angst sei der Preis der Freiheit.
BF: Ja, Angst entsteht dort, wo Freiheit beginnt. Freiheit bedeutet vor allem, aus einem Feld von Möglichkeiten wählen zu können, aber auch wählen zu müssen. Angst begleitet dieses Bewusstsein der Freiheit wie ein Schatten, denn wählen heißt entscheiden, wer man sein will, wie man das eigene Leben gestalten will. Doch wir kennen die Zukunft nicht und können nicht wissen, ob unsere Lebensentwürfe gelingen. Dies ist eine große Herausforderung, die ängstigt. Kierkegaard hat das wunderbar formuliert: Angst ist das Schwindelgefühl angesichts der Freiheit, sie ist wie ein Blick in den Abgrund der Möglichkeiten. Zudem haben wir für jede Wahl, die wir treffen, auch die Verantwortung zu tragen, die zu einer schweren Last werden kann – und gerade diese Verantwortung wiederum ist Teil der Angst. Blanche trifft die Entscheidung, ins Kloster zu gehen. Sie verspricht sich Schutz, Geborgenheit, Regeln und Ordnung, die ihr wiederum die weltlichen Entscheidungen abnehmen. Doch sie muss erfahren, dass Angst sich nicht durch Rückzug besiegen lässt, sondern nur durch Selbstverantwortung. Ihr Weg führt vom Fliehen zum Handeln.
JO: Die Oper spielt zur Zeit der Französischen Revolution, im Klima von Gewalt und Grande Terreur. Sie sprechen in Ihrem Buch von politischen Formen der Angst. Wie sehen Sie diesen Zusammenhang?
BF: Politische Ängste entstehen, weil Menschen über andere Menschen politische Macht ausüben und dabei auch Gewalt einsetzen. Die Ängste der Menschen um ihr Wohlergehen, um ihre Familien und Freunde, um ihre wirtschaftliche Existenz oder gar um ihr nacktes Überleben – diese Ängste erfahren dann in Zeiten großer Umbrüche und Krisen eine große Steigerung. In »Dialogues des Carmélites« ist das sehr eindrücklich: Die Angst der Einzelnen spiegelt die Angst der Masse und umgekehrt. Die Revolution steht einerseits für den Freiheitswillen des Volkes, zugleich ängstigt sie zutiefst mit ihrem Terror und richtet sich schließlich sogar gegen die Nonnen in ihrem Kloster.
In Poulencs Oper hat das sogar eine Klanggestalt: Die kollektiven Erschütterungen der Revolution kontrastieren mit der Innerlichkeit des Klosters. Angst hat hier Rhythmus, Lautstärke, Körper – sie wird zu einer gesellschaftlichen Schwingung, die alle Figuren erfasst.
JO: Gleichzeitig erleben wir in der Oper, dass Angst auch Gemeinschaft stiften kann: Die Nonnen schließen ein Märtyrergelübde. Blanche hingegen flieht zunächst. Wie erklären Sie diese Gegensätze?
BF: Angst kann verbinden oder trennen, je nachdem, wie sie erlebt und gedeutet wird. Wir sind soziale Wesen, teilen Stimmungen, lassen uns anstecken – daher die Rede von der »Epidemie der Angst« in der Oper. Aber jeder Mensch hat auch seine eigene psychische Konstitution. Für die einen wird Angst zu einem Motor von Solidarität, für die anderen zur lähmenden Überforderung. Blanche bewegt sich genau zwischen diesen Polen. Sie schwankt, sie verlässt ihr Elternhaus und geht ins Kloster als »Zufluchtsort«. Doch mit dem Terror wird die dortige Sicherheit zerstört, sie flieht aus Angst vor den Wirren der Revolution, und sie kehrt schließlich zurück zu ihrer religiösen Gemeinschaft – und sie findet am Ende doch zu einer Form von innerer Souveränität, die sie über die Todesangst angesichts des Schafotts erhebt.
JO: Eine der erschütterndsten Szenen ist der Tod der alten Priorin Madame de Croissy, die nach einem Leben im Gebet auf dem Totenbett plötzlich von Panik ergriffen wird.
BF: Das ist eine der stärksten Szenen der Oper, weil sie uns die Grenzen der Vorbereitung auf den Tod zeigt. Selbst jemand, der sich sein Leben lang mit dem Tod beschäftigt hat, ist vielleicht in der letzten Stunde nicht frei von Ängsten der Ungewissheit, was der Tod bedeutet und was kommen mag. Der Glaube kann tragen, aber er hebt die menschliche Angst nicht auf. Dies zeigt eine tiefe Wahrheit: Die Angst gehört zum Menschsein, sie lässt sich nicht vollständig wegmeditieren oder wegbeten – aber sie kann mutig getragen werden.
»Die Angst gehört zum Menschsein, sie lässt sich nicht vollständig wegmeditieren oder wegbeten – aber sie kann mutig getragen werden.«
JO: Was kann uns in der heutigen, hochkomplexen Welt helfen, mit dieser allgegenwärtigen Angst umzugehen?
BF: Unsere Gegenwart ist geprägt von Beschleunigung, unüberschaubarer Informationsflut und großer Verunsicherung hinsichtlich der Zukunft. Das belastet und überfordert viele Menschen. Deshalb ist es wichtig, immer wieder ein inneres Gleichgewicht zu erreichen, Räume der inneren Sammlung zu schaffen – ob durch Meditation, Gespräche, Rituale oder stabile soziale Bindungen. Einige Philosophen der Antike – Stoiker und Epikureeer, ebenso die Buddhisten – haben das »Einüben der Seelenruhe« als Lebenskunst verstanden. Eine solche Haltung ist auch heute noch interessant, um zu lernen, die Angst zu lenken, statt ihr ausgeliefert zu sein.
Angst zeigt, dass wir um unsere Freiheit und die Verantwortung wissen, die jede Entscheidung mit sich bringt. In diesem Sinn kann Angst uns helfen, angesichts der eigenen Verletzlichkeit und Sterblichkeit die Freiheit anzunehmen und in der Angst selbst eine Form von Stärke zu sehen. Poulencs Nonnen sind deshalb keine Opfer – sie sind Zeuginnen der Angst, die in Mut verwandelt wird.