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© Harald Hoffmann

Am Stehplatz: KS Michael Schade

Der Wiener Staatsopern-Stehplatz, das ist für mich ein Ort der Ehrfurcht, der Bewunderung – und auch ein bisschen der jugendlichen Furcht. Nur ein einziges Mal habe ich von dort eine Vorstellung erlebt, kurz nach meinem Engagement ans Haus am Ring. Dieses ist ja praktisch über Nacht passiert: Am 1. September 1992 sang ich dem damaligen Direktor Ioan Holender vor, noch während des Vorsingens ereilte ihn die Nachricht, dass der Tenor des Barbiere-Grafen für den 2. September abgesagt hatte. Kurzerhand fiel die Frage: „Und was machen Sie morgen Abend?“ Und am nächsten Abend debütierte ich tatsächlich im Haus am Ring als Conte d’Almaviva ...

Jedenfalls: Ich wurde Ensemblemitglied und wollte natürlich auch Vorstellungen, in denen ich nicht sang, miterleben. Die Institution des Stehplatzes kannte ich aus der New Yorker Met, die ich im Zuge meines Studiums oftmals besucht hatte. Doch der Wiener Opernstehplatz, das war natürlich etwas ganz Besonderes, der hatte einen Ruf, der mich, abgesehen von der Tatsache, dass man wunderbar hören kann, neugierig machte. Ich stellte mich also in die lange Reihe der Wartenden, kam an die Reihe, erwarb eine Karte und wunderte mich ein wenig über alle anderen, die plötzlich losstürmten und offenbar um die Wette rannten. Ich für meinen Teil spazierte gemächlich los, schaute mir noch ein bisschen das Haus an, kam zum Parterre-Stehplatz, der interessanterweise praktisch menschenleer war. Erfreut, dass ich so viel Platz für mich alleine hatte, suchte ich mir eine besonders schöne, zentrale und vordere Position aus, schob allerlei seltsame Taschentücher und Stoffgewinde, die um das Geländer gewickelt waren, beiseite und wartete auf den Beginn der Vorstellung. Dann aber! Plötzlich erschienen von allen Seiten merklich erboste Stehplatzler, die mir ausgesprochen ausdrücklich und präzise erklärten, was es mit den Taschentüchern am Geländer und der Reservierung der Plätze auf
sich hatte – und wie man sich als Neuling zu benehmen habe ... Ein bisschen furchtsam verzog ich mich in eine ruhige Ecke des Stehplatzbereichs und wartete erneut auf den Beginn des Abends. Ich dachte, dass ich nun alle Aufregung ausgestanden hätte und mich ganz dem Operngenuss hingeben könne. Doch das, was ich in den nächsten Minuten bis zum eigentlichen Vorstellungsbeginn erleben und hören sollte, hätte ich nie erwartet – und machte mich noch furchtsamer. Denn ich bekam mit, mit welcher Akribie, Leidenschaft, mit welchem Wissen und welch kritischem Geist die arrivierten „Stehplatzler“ über die einzelnen Sängerinnen und Sänger und ihre Darbietungen sprachen. Manche konnten über Jahrzehnte zurück Vergleiche ziehen, andere hatten ihre Idole und Favoriten, wieder andere lehnten diesen oder jenen vehement ab. Es wurde über Spitzentöne und technische Details befunden, es wurde Wissen aus- getauscht, manche Darsteller wurden vergöttert. Die Stehplatzbegeisterten wussten alles und kannten alles. Und sie hatten ihre Meinung über alles. Eine Meinung, die sie absolut nicht für sich behalten wollten... Niemals zuvor und niemals wieder habe ich so eine intensiv fachsimpelnde Gruppe erlebt, die so begeistert, so hingebungsvoll – aber zum Teil auch so unerbittlich war. Mit Ehrfurcht, aber eben auch ein wenig Furcht lauschte ich – und stellte mir unweigerlich die Frage: Wird über alle Sänger so gesprochen? Auch über die Neulinge?

Nach der Vorstellung ging ich grübelnd nach Hause. Und dachte über diese so strenge, so wunderbare, so kompetente, so begeisterte und so einzigartige Welt des Wiener Stehplatzes nach. Gerade darum fällt mein Blick beim Schlussapplaus auch immer auf diese verschworene Gemeinschaft. Und wenn ich dort zufriedene Gesichter und klatschende Hände sehe, bin ich doppelt glücklich. Denn ein ehrlicheres Publikum, eines mit mehr Herzblut – das kann man sich als Künstler gar nicht wünschen!


Als einer der führenden Tenöre unserer Zeit gastiert der Deutsch-Kanadier KS MICHAEL SCHADE regelmäßig an den wichtigsten Opernhäusern sowie Konzert- und Lied- bühnen der Welt. Eine enge Zusammenarbeit verbindet ihn mit der Wiener Staatsoper, wo er 1992 als Almaviva in Rossinis Il barbiere di Siviglia debütierte. Neben seiner Operntätigkeit widmet er sich intensiv der Konzertliteratur und dem Liedgesang. 2007 wurde ihm der Titel „Österreichischer Kammersänger“ verliehen. 2014 übernahm er die künstlerische Leitung der Internationalen Barocktage Stift Melk.