Cookie-Einstellungen

Dieses Tool hilft Ihnen bei der Auswahl und Deaktivierung verschiedener Tags / Tracker / Analysetools, die auf dieser Website verwendet werden.

Essentiell

Funktional

Marketing

Statistik

Am Stehplatz: Herbert Vogg

Wenn man wie ich 1928 zur Welt kam, konnte man am Opern-Stehplatz von 1942 bis zum Brand des „Alten Hauses“ am 12. März 1945 noch viele herrliche, unvergessliche Aufführungen erleben. Ich bin dankbar dafür, sehr dankbar. Aus der Fülle der Opernstehplatz-Erinnerungen drängt sich meine erste Salome vor: Ich war von der Klangwelt des Werkes so sehr fasziniert, dass ich nachher in keine Straßenbahn einsteigen wollte und zu Fuß hinaus nach Breitensee ging.
Wir wurden – es war ja Krieg! – 1944 von der Schule zur Fliegerabwehr eingezogen, was das Ende der frühen Stehplatz-Zeit bedeutete. Ich erinnere mich lebhaft, wie glücklich und wie wehmütig zugleich mich am letzten „freien Abend“, am 4. Jänner, der nicht enden wollende Beifall für Helge Roswaenge nach der Stretta in Verdis Troubadour stimmte.
Am 11. Juni 1944, dem 80. Geburtstag von Richard Strauss, gelang es mir, einen „Ausgang“ zu bekommen und die Festvorstellung der Ariadne auf Naxos zu besuchen. Der Komponist war anwesend und wurde stürmisch gefeiert. Nachher beim Ausgang sagte eine Männerstimme hinter mir: „Entschuldigung, ich komm’ von der andern Seite“: Da stand dem Sechzehnjährigen für ein paar Sekunden der Meister direkt gegenüber, und ich durfte Richard Strauss die Ausgangstüre halten.
Als am 12. März 1945 bei einem Bombenangriff auch unsere Oper getroffen wurde, hat irgendein „Dienstweg“ den Luftwaffenhelfer damals im offenen Lastwagen zufällig an dem brennenden Gebäude vorbeigeführt. Von einem Augenblick zum anderen hatte sich unsere, meine Welt in eine „Welt von gestern“ gewandelt.
Einem Bombenangriff knapp vor Kriegsende auf den Bahnhof einer bayrischen Kleinstadt wäre beinahe meine spätere Frau, mein Liserl, zum Opfer gefallen. Sie verlor bei dem Angriff zwar ihr gesamtes Gepäck, nicht aber die als kostbaren Schatz gehüteten Stehplatz-Programmzettel und die leidenschaftlich gesammelten Rollen-Fotos der verehrten Sängerinnen und Sänger der Staatsoper.
Nach unserer Hochzeit 1952 ordneten wir unsere Programmzettel „ineinander“ und stellten fest, dass wir etliche Vorstellungen gemeinsam besucht hatten; meine Frau auf der 4. Galerie, ich vorzugsweise im Stehparterre, wo einzig das Dunkel des Raumes zwischen dem Bühnengeschehen und mir lag. Mein Liserl hatte übrigens penibel auch die Zahl der „Vorhänge“ festgehalten: Unglaubliche 28 Vorhänge hat es da beispielsweise am 1. März 1944 für das Ensemble von Straussens Capriccio gegeben!
Nach Kriegsende begann für mich am 20. Oktober 1945 mit einem Fidelio im Theater an der Wien eine neue, äußerst intensive Stehplatz-Zeit. Und nicht nur das: Damals begegneten auch meine spätere Frau und ich einander persönlich. Diese Stehplatz-Zeit endete erst, als mich nach meiner Promotion 1951 die Tageszeitung Neues Österreich als Musikkritiker engagierte. Da saß ich dann im Parkett des Theaters an der Wien, dem Ausweichquartier der zerbombten Staatsoper. So auch in der Abschlussvorstellung 1955, welche den Opernbetrieb feierlich und zugleich wehmütig in das wieder aufgebaute Haus am Ring zurückführte: Erich Kunz (wer sonst?) war in dieser Zauberflöte der Papageno. Seine gesungene Bitte lautete: „Will sich eine um mich Armen, eh ich hänge, noch erbarmen, wohl so lass ich’s diesmal sein. Rufet nur, ja oder nein!“ Schließlich sollte er resignierend singen „Bis man zählet eins, zwei, drei“, und als er wie immer das „drei“ hinauszögerte, fiel ihm ein weiblicher Chor vom Stehplatz auf der Galerie herunter lauthals mit einem im Libretto nicht vorgesehenen „ Jaaaa!“ ins Wort. Das löste einen Beifallssturm aus, der sich als das herzliche Dankeschön des Wiener Opernpublikums für die phantastischen „Exil-Jahre“ im Theater an der Wien verstanden wissen wollte. Solche Erinnerungen tauchen tief aus dem Brunnen der Vergangenheit auf. Heute stehen meine Enkelkinder auf der Galerie der Staatsoper, eine Enkelin sitzt alternierend im „Untertitelkammerl“, um das Publikum mit deutschen und englischen Untertiteln zu versorgen.


Prof. Dr. Herbert Vogg,
Studium der Musikwissenschaft und Germanistik an der Universität Wien. Musikkritiker, Universitätslektor und Leiter des Musikverlages Doblinger, Geschäftsführer des Musik- wissenschaftlichen Verlages Wien. Libretti für Opern und Oratorien, Texte für Chansons.