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Volksoper Wien Premieren

Das Feuer des Prometheus

Ballettdirektor Martin Schläpfer über die Spielzeit 2022/23 an der Volksoper Wien

Das Programm der Spielzeit 2022/23 wird geprägt von Namen wie Merce Cunningham, Andrey Kaydanovskiy, Anne Teresa De Keersmaeker, Hans van Manen, Mark Morris, Alexei Ratmansky, Martin Schläpfer, Paul Taylor. Was erwartet das Ballett-Publikum in der Volksoper Wien?

Martin Schläpfer: Die Ballettkunst ist ein großartiger, in seiner Vielfalt kaum gänzlich zu überschauender Kosmos aus unterschiedlichsten Ästhetiken, Arbeitsweisen und Formen. Dies fasziniert mich und entsprechend suche ich nach einer möglichst horizontalen Gestaltung unserer Spielpläne. Das heißt: keine Separation, kein Nischendenken, das nur gewisse Aspekte des Repertoires fokussiert und weiterhin Gräben zementiert, sondern eine Planung, in der Werke der klassischen Moderne, des Modern Dance und Uraufführungen gleichberechtigt neben romantischen Handlungsballetten und der Neoklassik stehen. Wir haben uns das Repertoire des Wiener Staatsballetts sehr genau angeschaut und Koordinaten ausgelegt, mit denen wir einerseits fortsetzen, was in Wien Tradition hat. Andererseits zeigen wir aber auch andere Facetten wie 2022/23 beispielsweise in der Premiere Promethean Fire.

Erstmals sind mit dieser in der Geschichte des Wiener Staatsballetts Werke von Paul Taylor und Mark Morris zu sehen.

Ich denke, die Schnürung dieses Programms ist eine wunderschöne: Taylor und Morris haben beide ihre künstlerische Heimat in New York gefunden, sie haben viele gemeinsame Wurzeln, sind aber ihre eigenen Wege gegangen – zwei Künstler, die zur Avantgarde des Modern Dance zählten, heute aber längst Klassiker sind, Künstler, deren Werke sich durch eine eigene Bewegungssprache und spezifische Körpertechnik auszeichnen, ohne aber mit all dem zu brechen, was ein klassisch ausgebildeter Balletttänzer mitbringt. Denn dieser Aspekt ist ja auch wichtig: Wenn ich das Repertoire erweitern möchte, muss ich mein Ensemble behutsam mitnehmen, den Tänzer*innen Wege aufzeigen, auch andere Tanz- und Körpertechniken zu integrieren.

Taylors Promethean Fire eröffnet das Programm. Ein Tanzkritiker hat dieses Stück mit einer »Kathedrale im Belagerungszustand« verglichen.

Das ist ein schöner Vergleich. Taylor hat seine Choreographie zu Werken Johann Sebastian Bachs 2002 nach dem »Nine-Eleven«-Anschlag kreiert. Und wenn er auch verneinte, dass sich sein Stück konkret auf dieses Ereignis beziehe, so hat es doch eine krisenhaft-bedrohliche Atmosphäre und eine unglaubliche Wucht. Er arbeitet mit Hebungen, die aber keinerlei Leichtigkeit haben, sondern wie eine große Last wirken. Die Tänzer*innen sind wie aneinandergekettet.

Durch die Wahl des Titels hat er das Prometheus-Thema in sein Stück eingeschrieben: Prometheus, als Überbringer des Feuers und Menschenformer das Urbild des mutigen Rebellen, der sich für die Befreiung aus Unwissenheit, für Zivilisation, Erkenntnis, Wissenschaft und Fortschritt einsetzt, der aber auch für die Hybris des Menschen steht, das Sich-in-Eins-Setzen mit Gott, ein entfernter Verwandter des Ikarus, dem es nicht gelingt, die Balance zu finden zwischen Aufstieg und Fall.

Die Frage nach Balance ist eines der zentralen Themen unserer Zeit. Nicht nur die jüngsten politischen Ereignisse mit einem völlig sinnlosen, zutiefst menschenverachtenden Vernichtungskrieg mitten in Europa zeigen, wie sehr wir jegliche Form von Balance verloren haben. Und trotz immer größeren Fortschritts in vielen Bereichen des Lebens und immer neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen sind wir weit entfernt von einer Kontrolle über das Leben, einem wirklichen Verstehen der Natur. Im Gegenteil, wir wissen so vieles nicht. Auch das ist Prometheus! Dass wir all dem, was vielleicht doch von einem Göttlichen in der Welt, im Menschen zeugt, letztlich nur mit einer großen Demut begegnen können. Viele von uns glauben nicht mehr an die archaischen Grundkräfte im Leben. Dabei können wir diesen nicht entfliehen. All diese Fragen interessieren mich sehr – auch im Tanz ...

... für den Balance natürlich eines der zentralen Themen ist.

Als Seelensprache, die sich ihren Weg durch den Körper sucht, kann der Tanz durchaus zur Vertikalen werden, zu einer apollinisch-wegstrebenden Form, die wie eine erhellte Kathedrale von innen leuchtet. Ein Stück wie Taylors Promethean Fire zeigt uns dagegen eindrücklich, dass wir trotz der ungeheuren Sprengkraft, welche die energetisch-charismatische Kommunikation durch den Körper zu entfalten vermag, schlussendlich an die Schwerkraft gebunden sind. Ein Sprung ist ein Sprung, der aber doch immer auf den Boden zurückfallen wird.

Taylors unter die Haut gehendem Tanzdrama antwortet Mark Morris zum Abschluss des Programms mit Beaux. Ein Stück voller Humor für neun schöne Männer, ein Finale, das sich wunderbar in die Volksoper fügt als ein Haus, in dem ja immer auch viel gelacht wird.

Beaux ist das Gegenteil des teils verbissenen Ernstes, mit dem wir derzeit die Rollen von Männern und Frauen debattieren. Es spielt zu Musik von Bohuslav Martinů mit dem Klischee des Beau, des schönen Mannes, mit feinem Witz, einer genauen Beobachtungsgabe und voller Leichtigkeit. Nicht zuletzt, weil wir wirklich hinreißende Männer in unserer Compagnie haben, ist dieses Stück für mich ein fröhliches »Salz in der Suppe«, dem ich in der Mitte des Programms zwei Miniaturen aus meinem eigenen Repertoire zu zwei Leuchttürmen der musikalischen Avantgarde entgegenstelle: György Ligetis Lontano und Ramifications. Die Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Musik gehört für mich genauso in eine gute Programmierung wie die Auseinandersetzung mit zeitgenössischem Tanz. Die Tänzerinnen sind auf Spitze und ich zeige in diesen Stücken, wie wunderbar der Spitzenschuh zu zeitgenössischer Musik passt: Zu den von Ligeti in der Fläche angelegten Kompositionen lassen sich mit ihm nicht nur perkussive Gegenrhythmen setzen, sondern in diese wie in eine Sumpflandschaft aus Klang hineinstechen oder bohren. Ramifications ist ein skulpturales, nicht zu fassendes Solo, das überall ist: innen wie außen. Lontano ist ein Pas de six in einer sehr klaren, geometrischen Struktur, die von einem Psychogramm überlagert wird. Beide schließen mit einem Ende der Zeit oder Ende dieser Realität, schwingen nach – hinein in eine andere Phase von Leben oder Geistigkeit. Das schien mir eine schöne Mitte nicht nur für dieses Programm zu sein, sondern ein wichtiger Gedanke für die gesamte Spielzeit.

Eine Spielzeit, die durch einen Neuanfang geprägt ist: Es ist die erste Saison von Lotte de Beer und Omer Meir Wellber. Wie zeigt sich dies im Spielplan des Wiener Staatsballetts?

Ein erstes Zeichen für unsere Zusammenarbeit ist die Premiere Jolanthe und der Nussknacker, eine Koproduktion zwischen Volksoper und Staatsballett. Lotte de Beer und Omer Meir Wellber möchten gerne vermehrt spartenübergreifend Produktionen planen. Solche Ideen sind natürlich nicht neu. Was beide vorhaben, scheint mir aber mehr als nur das »Reiten« auf einem Trend zu sein. Es ist eine interessante und schöne Perspektive und ich freue mich sehr, dass Andrey Kaydanovskiy die Choreographie für das erste Projekt dieser Art zugesagt hat. Nach seiner erfolgreichen Uraufführung lux umbra in unserem Programm Begegnungen, das wir auch 2022/23 weiter zeigen werden, ist es für mich absolut folgerichtig, die Zusammenarbeit mit ihm fortzusetzen. Er ist ein Choreograph, der seine Stücke immer auch vom Tanztheatralischen her denkt, nach Geschichten und Figuren sucht, und so schien er mir ideal für diese Produktion. Es ist der Auftakt in eine neue Ära, in der eine regieführende Direktorin antritt, die mit ihrer Theaterarbeit sicher auch das Haus und die dort arbeitenden Menschen prägen wird. Darauf freue ich mich sehr.

Welche Chancen eröffnet eine solche Zusammenarbeit?

Die Tänzer*innen des Corps de ballet der Volksoper, das in Jolanthe und der Nussknacker geschlossen auftreten wird, sind es in gewissem Maße natürlich gewohnt, so zu arbeiten, weil sie ja regelmäßig in den Musiktheater-Produktionen des Hauses mitwirken und hier immer wieder auch als Darsteller gefordert sind. Jolanthe und der Nussknacker geht aber einen Schritt weiter, indem Tanz und Oper sehr eng ineinander verzahnt werden. Ich erwarte mir ein starkes Amalgam zwischen Regie und Choreographie. »Spartenübergreifend« ist für ein solches Projekt eigentlich kein gutes Wort, ist es ja nicht »über-greifend«, sondern eher »innen durch-greifend«, alle Möglichkeiten auf einen Spieß spießend, sodass sich Regie, Choreographie, musikalische Leitung und Design, aber auch Gesang, Instrumentalmusik und Tanz innerlich verbunden begegnen und in der Verschränkung der beiden ursprünglich eigenständigen Werke – der Oper Jolanthe und des Balletts Der Nussknacker – etwas Eigenes entsteht. Es ist eine Arbeitsweise, die gar nicht meiner eigenen entspricht, und mich auch deshalb zu beobachten sehr interessiert. Ich lasse in meinen Choreographien die verschiedenen Ebenen sich gerne parallel entwickeln – verbunden durch Knotenpunkte, an denen ich die Wege mit meinen Partner*innen fixiere, um dann wieder ein Stück autark weiterzugehen, bis in den Endproben alles zusammenfindet.

Die »horizontale« Programmgestaltung, von der du eingangs gesprochen hast, prägt neben den Premieren auch das Repertoire der kommenden Spielzeit – und natürlich spannen sich vielfältige Fäden auch zum Spielplan in der Wiener Staatsoper.

Lotte de Beer und Andrey Kaydanovskiy verbinden den Nussknacker mit Jolanthe, ich werde in der Staatsoper ein neues Dornröschen auf die Bühne bringen – wir setzen uns also intensiv mit Peter Iljitsch Tschaikowski auseinander. Aus den eingangs von dir genannten Namen, ergänzt um Lucinda Childs, Marco Goecke, Ohad Naharin, Heinz Spoerli, aber auch Frederick Ashton, George Balanchine, Jerome Robbins und Rudolf Nurejew in der Staatsoper webt sich ein Teppich aus Schattierungen, die mir zentral erscheinen für den Tanz des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart und für die ich unser Publikum begeistern möchte. Repertoire bedeutet für mich darüber hinaus aber immer auch die Chance, nicht nur von Vorstellung zu Vorstellung zu reproduzieren, sondern an den Produktionen, die ja auch höchst anspruchsvoll zu tanzen sind, weiterzuarbeiten. Dies gilt für Alexei Ratmanskys 24 Préludes mit ihrer virtuosen Technik und zugleich großen Menschlichkeit in einem nur scheinbar abstrakten Szenario, in dem sich die Tänzer*innen als individuelle Persönlichkeiten begegnen, ebenso wie für mein Ballett In Sonne verwandelt in unserem Programm Begegnungen.

... eine deiner feinen, leisen, geradezu philosophischen Arbeiten, die uns auch von dem spricht, was du eingangs als »das Göttliche im Menschen« bezeichnet hast. Ein mit Beethovens Musik Mut machendes Werk, wie eine Andacht ...

... und für die Tänzer*innen eine Choreographie, in der man sich in keinerlei äußere, schnell Beifall heischende Effekte flüchten kann, sondern das, was ich mit dem Tanz sagen möchte, völlig durchdringen muss. Das gleiche gilt auch für Ein Deutsches Requiem, wo es mir selbst ein großes Bedürfnis ist, dieses noch weiter dorthin zu treiben, wo es mir scheint, hingehen zu können, in der kommenden Saison dann mit dem neuen Direktor des wunderbaren Chors und Zusatzchors der Volksoper, Roger Díaz-Cajamarca als Partner am Dirigentenpult. Es ist das Schöne am Repertoire, dass man an den Stücken weiterarbeiten, sie vertiefen und schärfen kann und sich auch auf andere Nuancen, welche die Tänzer*innen, die neu zu unserem Ensemble stoßen werden, mitbringen, einlassen darf. Theaterarbeit ist immer ein Work in progress, keine Vorstellung ist wie die andere – und ich freue mich sehr auf unser Publikum, zu dem wir nach dem schwierigen Start zwischen mehreren Lockdowns endlich erste persönliche Verbindungen knüpfen konnten: dass wir einen Weg gemeinsam gehen und dass eine Freude entsteht, nicht nur einzelne Vorstellungen zu besuchen, sondern auch die Entwicklungen auf diesem Weg zu begleiten und sich von all dem, was wir geplant haben, berühren zu lassen.

Das Gespräch führte Dramaturgin Anne do Paço

Musiktheater für die ganze Familie: die Volksoper Wien präsentiert einen Abend mit zwei Meisterwerken Tschaikowskys: der Oper Jolanthe und dem Ballett Der Nussknacker

Jolanthe ist eine blinde Prinzessin. Ein berühmter Arzt kann sie heilen, aber erst, nachdem sie über ihre Blindheit aufgeklärt wurde. Ihr Vater jedoch will ihr diese Nachricht nicht überbringen, ihr Schmerzen um jeden Preis ersparen. Ein unerwarteter Besucher, der zukünftige Geliebte, erklärt der Prinzessin, was es bedeutet, sehen zu können. Ein Riss durch die geordneten Strukturen der Kindheit führt nicht nur in Jolanthe, sondern auch in Tschaikowskis Ballett in eine neue Welt: Ein Mädchen entdeckt in einem Nussknacker einen Prinzen, mit dem es zu einer Traumreise in ein märchenhaftes Schlaraffenland aufbricht.

Lotte de Beer, Andrey Kaydanovskiy und Musikdirektor Omer Meir Wellber verflechten die beiden Werke zu einer Geschichte über das Erwachsenwerden und das Lernen, die Welt so zu sehen, wie sie ist. Die Nussknacker-Musik und die Tänzer*innen des Wiener Staatsballetts zeigen uns die Welt von Jolanthes innerem Auge. »Es kommt im Leben eine Zeit, in der man sich entscheiden muss, ob man eine blinde Prinzessin bleiben oder die Welt in ihrer ganzen Unvollkommenheit sehen will«, so Lotte de Beer.

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Zum zweiten Mal findet in der Volksoper Wien die Plattform Choreographie statt – ein Format, in welchem Ensemblemitglieder des Wiener Staatsballetts eigene choreographische Konzepte entwickeln und präsentieren. In einem geschützten Raum und zugleich professionellem Rahmen haben ausgewählte junge Choreograph*innen die Möglichkeit, sich frei und kreativ zu entfalten, jedoch auch die Herausforderungen einer Stückkreation – von der Idee bis zur finalen Gestaltung – im Theaterbetrieb kennenzulernen. Den Zuschauer:innen präsentieren sich Tänzer:innen des Wiener Staatsballetts von einer anderen Seite in einem vielfältigen Programm mit unterschiedlichen Ästhetiken, Bewegungssprachen und musikalischen Stilrichtungen.

Gefördert durch den Freundeskreis Wiener Staatsballett

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Mit der Premiere Promethean Fire präsentiert das Wiener Staatsballett in der Volksoper erstmals zwei herausragende Künstler des American Modern Dance: Paul Taylor und Mark Morris. Ihre Choreographien sind an den äußeren Rändern des Prometheus-Motivs angesiedelt – zwischen Hybris und Menschlichkeit, Katastrophe und Schönheit, Schöpfung und Vergänglichkeit.

Prometheus hat aus Lehm einen Menschen geformt und der Menschheit das Feuer und damit die Zivilisation gebracht. Für seine Rebellion gegen den Göttervater Zeus musste er – an einen Fels gefesselt, wo ein Adler regelmäßig von seiner Leber fraß – mit schrecklichen Qualen bezahlen. Prometheus ist eine Symbolfigur für die Befreiung aus Unwissenheit und Unterdrückung, steht als »der Vorausdenkende« für Fortschritt, aber auch für die Herrschaft über die Natur und nicht zuletzt für den Größenwahn des sich gottähnlich gebarenden Menschen.

Paul Taylors Promethean Fire soll als direkte Reaktion auf die Anschläge von »Nine-Eleven« entstanden sein. Wenn der Choreograph diese konkrete Assoziation später auch wieder zurückzog, so liegt doch eine katastrophische Grundstimmung im Raum: Konflikte brechen aus, Emotionen stoßen aufeinander – am Ende siegt jedoch die Hoffnung in diesem bewegenden Tanzdrama.

Mark Morris bringt dagegen mit seinem wunderbaren Humor neun Beaux auf die Bühne: schöne Männer, echte Kerle, aber auch Kumpel, Kavaliere und unschuldige Engel. Zugleich ist Beaux aber auch ein in seiner Leichtigkeit anspruchsvolles, luzides »Musizieren mit dem Körper«.

Der kräftigen Modern Dance-Sprache der beiden Amerikaner antwortet Ballettdirektor Martin Schläpfer mit zwei Miniaturen: subtile, in feinen Farben leuchtende Bewegungsstudien, Tänze wie »das Pulver auf den Schmetterlingsflügeln«.

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