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Von Augenblick zu Augenblick

Mozart, Verdi, Wagner, Goethe, Shakespeare – überhaupt alle Genies – werfen in ihren Schöpfungen Fragen auf, die sie allerdings bewusst nicht eindeutig beantworten. Sie bieten vielmehr dem Publikum gleich eine Reihe von Antworten an, ohne eine zu präferieren. Und sie zeigen oft, wie in einem Spiegel, dass die offensichtlichste, die naheliegendste Antwort nicht zwingend die korrekte ist und dass es eine gültige Antwort gar nicht geben muss. In den Meisterwerken Mozarts oder Verdis wird die Widersprüchlichkeit der menschlichen Natur in ihrer ganzen Bandbreite vorgeführt, es werden unterschiedliche Lebensweisen präsentiert – aber es wird kein Urteil gefällt. Ist Rigoletto ein guter Mensch, ein schlechter Mensch? Weder noch – und deshalb ist diese Bühnenfigur so glaubwürdig. Am Beginn der Oper ist Rigoletto zutiefst unsympathisch, gemein, grausam, böse, er macht sich schuldig gegenüber einem Ceprano, einem Monterone und vielen anderen. Aber wenn ihn am Ende die Rache trifft, wenn ihn der Tod der eigenen Tochter in extremstes Leid und ausweglose Verzweiflung stürzt, wird ihn trotzdem niemand im Auditorium verurteilen. Nein, man hat Mitleid mit dem Hofnarren. Und genau das will Verdi dem Publikum vorführen. Er will sagen: Wie im Leben, so erhalten auch die Bühnengestalten für ihre selbst gewählten Handlungen die dazu passende Rechnung präsentiert, aber das sind klare, nüchterne Fakten. Verurteilen? Kann man vom buckligen, vom verkrüppelten Rigoletto separieren, dass er tagaus, tagein in einer hoffnungslosen Situation lebt, emotional geschlagen, seelisch oftmalig verletzt? Diese Umstände machen seine Verfehlungen nicht kleiner, das aus seinen Missverhalten resultierende Ende nicht weniger schlimm, aber es wird verhindert, dass sich jemand im Zuschauerraum zum Richter aufschwingt. Die auf der Bühne vorgeführten Geschichten sind natürlich im Allgemeinen, und so auch in Rigoletto, etwas überspitzter, extremer als im wahren Leben. Aber nicht so viel, wie man glauben möchte. Die Meisterwerke gehen nur einen Schritt über das echte Leben hinaus. Und das ist der Trick: denn der Zuschauer meint dadurch – zunächst – nichts mit den Bühnenfiguren gemeinsam zu haben, er wähnt sich über ihnen erhaben. Doch nach und nach wird er immer tiefer in die seelischen Landschaften dieser Figuren hineingezogen, wird ergriffen. Und plötzlich merkt er, wie ein Verdi, ein Mozart und wie diese Großen alle heißen mögen, zu ihm sagt: „Urteile nicht, denn dann sprichst du das Urteil über dich selbst!“

Die große Herausforderung für den Interpreten ist also die Darstellung der, vom Schöpfer des Meisterwerkes geformten, Komplexität der jeweiligen Figur. Die diesbezügliche Schwierigkeit bei Verdi: Im Gegensatz zu Mozart, der einem Sänger die Möglichkeit gibt, im Laufe der Handlung alle wesentlichen Aspekte eines vielschichtigen Charakters immer wieder neu zu erkunden, zu entwickeln, sind die vielfältigen Persönlichkeitsfacetten – eines Rigoletto beispielsweise – auf unterschiedliche Szenen verteilt. Mit anderen Worten: Man hat alle fünf Minuten die Möglichkeit, verschiedene charakterliche Qualitäten zu zeigen, aber jeweils nur ein einziges Mal. Wenn ich also verabsäume, das Bösartige in Rigolettos Wesen, das am Beginn offenkundig ist, darzustellen, werde ich später in der Oper keine weitere Gelegenheit dazu erhalten, denn danach geht es um andere seelische Farbschattierungen, um Liebe, um (Über-)fürsorglichkeit, um Rache usw. Somit ist jeder Augenblick in einer Aufführung eine Schlüsselstelle für die Interpretation: Jede vertane Chance, macht den gezeigten Charakter daher ärmer, weniger komplex, weniger glaubwürdig und dadurch karikaturhafter. Und diese permanente Herausforderung in den verdischen Opern, diese Notwendigkeit jederzeit hundertprozentig alles geben zu müssen, hat mich unter anderem dazu bewogen, bestimmte Rollen dieses Komponisten in mein Repertoire aufzunehmen, denn sie bieten das, was ich im Laufe meiner Laufbahn immer mehr zu lieben gelernt habe: Echtes Musiktheater. Ich vertrete nicht die Ansicht: Zuerst die Stimme, dann das Theater. Nein, Musiktheater ist beides in ausgewogener Balance. Und mich interessieren nur Rollen (innerhalb meines vokalen Spektrums), die diese Mischung gewährleisten. Mir geht es nicht um Fächer. Ich bin also kein Verdi-Sänger, sondern Sänger des Rigoletto; kein Verdi-Sänger, sondern Sänger des Macbeth; kein Verdi-Sänger, sondern Sänger eines Posa, eines Vater Germont. Ja, ich gehe sogar noch weiter: Mich interessiert primär nicht einmal die Rolle als solche, sondern das gesamte Drama, das zur Aufführung kommt: Ich bin als Vater Germont nur ein Zahnrad der gesamten Traviata-Uhr, aber das macht nichts. Es geht mir nicht darum, die komplette Uhr zu sein. Sicher, als Rigoletto bin ich wohl mehr als nur ein Zahnrad innerhalb des Ganzen, aber das Ganze bin ich dennoch nicht. Muss ich auch nicht sein. Ich habe genug damit zu tun, alle Facetten meines Anteils herauszuarbeiten, Schritt für Schritt, Ecke für Ecke, Szene für Szene.

Simon Keenlyside