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Cornelius Obonya stellte im Rahmen des Symposiums die wichtigsten Passagen der historischen und legendären Operndiskussion zwischen u.a. Theodor W. Adorno, Rolf Liebermann und Hans Hotter nach.

PODIUMSDISKUSSION Stagione- oder Ensemble-Oper

Am Ende der Seite finden Sie eine Tonaufnahme des Symposiums. 

[0:00] MODERATOR

Meine Damen und Herren, ich möchte nur an dieser Stelle, nicht so sehr für Sie, für das Wiener Publikum, als für den Rundfunk, den Österreichischen und den Westdeutschen, der diese Diskussion übernehmen wird, eine kurze Vorstellung unseres Diskussionsleiters vornehmen. Prof. Dr. Helmut Fiechtner ist, wie Sie wissen, Kulturredakteur der kulturpolitischen Wochenschrift Die Furche, zu seinen Gebieten gehört Pädagogik, angewandte Psychologie und Musikgeschichte ebenso wie das praktische Musikstudium, das er bei verschiedenen prominenten Komponisten, Schünemann, Brock usw. betrieben hat. Er kennt die Wiener Musikverhältnisse sehr genau und ist besonders als Streiter für die Neue Musik bekannt, wenn er auch die Einschränkung zu machen pflegt, dass die neueste Musik nicht immer un- bedingt unter diese Sparte für ihn fällt.

Sie werden meine Erleichterung verstehen, dass ich nach dieser Charakteristik, ihm jetzt das Steuer für diese vielleicht nicht ganz fairness-freie Diskussion übergeben und »toi, toi toi « wünschen darf.

[01:00]

FIECHTNER
Meine Damen und Herren, verehrte Hörerinnen und Hörer, ich darf Ihnen jetzt die Teilnehmer unserer Dis- kussion vorstellen, zu meiner Rechten Herrn Prof. Theodor Adorno, er ist Direktor des Instituts für Sozialforschung an der Goethe-Universität in Frankfurt und ordentlicher Professor für Philosophie und Soziologie. Als Schüler Alban Bergs und Eduard Steuermanns in den zwanziger Jahren hat er in Wien gelebt und hat in den Jahren 1928 bis 31 maßgeblich an der Redaktion des von der Universal Edition in Wien gedruckten Organs der Musikblätter des Andruck mitgewirkt. Daher ist er unserer Stadt und ihrer musikalischen Tradition besonders eng verbunden. So gelten seine eingängigen und erhellenden Analysen immer wieder Werken der Wiener Schule, insbesondere der Werke Schönbergs, Bergs und Weberns; Gustav Mahler hat er eines seiner bedeutendsten Bücher gewidmet, aber auch im Schat- ten der Neuen Wiener Schule Stehende hat er ins rechte Licht gerückt, ich meine Schreker und Zemlinsky. In der knapp 30 Seiten umfassenden Studie mit dem Titel Wien [Zwischenrufe: »lauter! «] jetzt in dem Essayband Quasi una fantasia erweist sich Professor Adorno als eminenter Kenner und hellhöriger Analytiker auch des Geistes dieser Stadt.

[02:37]

Kammersänger Hans Hotter kam als Sohn eines Offenbacher Architekten und Lehrers fast ein wenig gegen seinen Willen in einen Beruf, der ihm zur Berufung wurde, und in dem er Hunderttausenden einmalige in ihrer Art unübertroffene Kunsterlebnisse vermittelt hat. Er be- gann als Kirchensänger, Organist und Chorleiter, über Troppau und Prag führte ihn sein Weg nach Hamburg, und, von Clemens Groß berufen, nach München, dessen Opernhaus er am längsten angehörte. Aber auch Bay- reuth und Wien betrachten ihn als einen der ihren. Seine darstellerische und sängerische Gestaltung vieler großer Partien speziell in Opern Mozarts, Verdis und Wagners hat diese Rollen für unsere Vorstellung, für die Vorstellung Vieler und Erinnerungen so der Persönlichkeit Hot- ters angeglichen, dass sein Bild wie der mächtige Schat- ten Agamemnons über manchen sonst schätzenswerten Nachfolgern in diesen Partien schwebt. Sie wissen, dass in den letzten Jahren, 1961-1965, Hans Hotter in Covent Garden den Ring inszeniert hat, in Wien hat er Palestrina inszeniert, in München den Holländer, es werden weite- rer Inszenierungen an deutschen Opernhäusern folgen.

[04:06]

Direktor Hermann Juch, Jurist seines Zeichens, wie viele österreichische Kunstbeamte, wurde bereits 1937 in die Bundestheaterverwaltung berufen, nach 1940 gehörte er der Staatsoperndirektion an, und 1946 wurde er Direktor der Wiener Volksoper. In den folgenden neun Jahren hat er an diesem Institut einen Spielplan erstellt und einen Stil entwickelt, der als [Zwischenruf: lauter!] in seiner Art exemplarisch bezeichnet werden kann und auch heute noch nachwirkt. Direktor Juch versuchte nämlich, einen gemeinsamen Nenner für die klassische Operette und Spieloper zu finden und jedes Genre mit Hilfe des anderen zu steigern. In seinem Spielplan fand auch eine ganze Reihe neuere Werke Platz. 1955 folge Doktor Juch einem Ruf als Generalintendant der Deutschen Oper am Rhein, die zwei Bühnen, die von Düsseldorf und von Duisburg, bespielt. Seit 1964 ist Direktor des Opernhauses Zürich, das früher Stadttheater hieß und dem er glaube ich seinen Namen jetzt erst gegeben hat.

[05:26]

Rolf Liebermann, ein Großneffe des bekannten Malers und Sohn eines Rechtsanwalts, ist, wie er einmal sagte, eigentlich nur durch einen charmanten Zufall als Schweizer geboren. Mit der Juristerei hielt er es nicht lange. Als Musiker erhielt er seine Ausbildung nach ersten Studien am Zürcher Konservatorium bei Hermann Scherchen, dessen zunächst technischer Assistent er bei der Musikabteilung der Schweizer Rundspruchgesellschaft wurde. Seine weitere Ausbildung erfolgte bei dem Busoni-Schüler Vladimir Vogel, vom Leiter der Or- chesterabteilung von Radio Beromünster übersiedelte er 1957 an die des Norddeutschen Rundfunks, seit 1959 ist er Intendant der Hamburger Oper, deren Spielplan und Niveau unter seiner Leitung weltbekannt geworden sind. So sehr man Rolf Liebermanns organisatorische Qualitäten schätzen mag, es mischt sich für den Musik- kritiker das Bedauern drein, dass der Komponist, der 1947 mit einem Furioso für Orchester begann, und sich durch weitere Orchesterwerke besonders aber durch die letzte seiner drei Opern Die Schule der Frauen nach Moliere die Bühnen zweiter Kontinente erobert hat, nur mehr so selten etwas von sich hören lässt

[06:51]

Doktor Herbert Schneiber kommt von der Musikwissenschaft und von der Philosophie her. Seit 1946 war er nacheinander Musikkritiker dreier Grazer Tageszeitungen, zugleich, von Graz aus, Korrespondent des Wiener Kurier, der Salzburger Nachrichten und der Furche. 1954 trat er in die Redaktion des Kurier ein, dessen bekannter Chefkritiker und seit 1959 Kulturredakteur er ist. Auf dem Gebiet der Oper und der Konzertmusik, des klassischen Repertoires einschließlich der Operette und der Neuen Musik ist er gleicherweise zuhause.

[07:34]

Als Letzten, aber nur in alphabetischer Reihenfolge den Letzten, habe ich die Ehre, Herrn Ministerialrat Doktor Erwin Thalhammer vorzustellen, den wir hier nicht nur als Leiter der Bundestheaterverwaltung begrüßen, der, dem, der zwei Opernhäuser unterstehen, sondern auch musischen, als musischen Beamten. Er absolvierte das Studium der Rechtswissenschaft in Graz und ließ sich zu gleicher Zeit beim Konzertmeister des Grazer Philharmonischen Orchesters als Geiger ausbilden. Er wirkte an einer Studentenbühne und bei Wanderbühnen als Schauspieler und Regisseur mit. Und auch während des Krieges betätigte er sich in Uniform als Autor, Regisseur und Schauspieler. 1949 trat er in den Dienst des Amtes der Steiermärkischen Landesregierung und wurde 1951 in das Bundesministerium für Unterricht berufen, wo er ab 1956 das Referat Denkmalpflege besonders für juridische Angelegenheiten der Kunstsektion und der staat- lichen Kunstakademie übernahm. Seit Oktober 65 ist Doktor Thalheimer Leiter der Bundestheaterverwaltung.

[08:55]

Sie sehen, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben hier Männer der Praxis und solche, die über Musik schreiben. Solche, die über Musik schreiben, und solche, die die Werke auf die Bühne stellen. Wir wollen, und ich sage jetzt noch nur zwei Sätze, oder drei, deshalb nicht nur über die ideale Oper und den idealen Spielplan, also gewissermaßen über die Oper als Wille und Vorstellung sprechen, sondern auch über die Oper als die »Kunst des Möglichen «, wie man einmal, wenn ich mich recht erinnere, die Politik definiert hat.

Einig sind wir und alle wohl darüber, dass Oper nicht etwas museal zu verwaltendes, nicht nur »schöne Stimmen, schöne Weisen « heißt, sondern was Lebendiges ist, eine kulturelle Verpflichtung, etwas, das aus der allgemeinen Kunstströmung der Gegenwart nicht herausgelöst und isoliert, auf einer Insel angesiedelt bzw. ausgesetzt werden soll. Wenn ich zum Schluss eine per- sönliche Bitte aussprechen darf, so wäre es die, dass wir in der Diskussion über das Thema, das uns gesetzt ist, über die Oper, das zur Stummheit verdammte Mauer- blümchen Ballett nicht ganz vergessen, das meiner Meinung nach einen integrierenden Bestandteil dessen bildet, was man modernes Musiktheater nennt, ob nun Stagione oder Ensembleoper.

Wir möchten jetzt nun zu Beginn etwas versuchen, was seine Tücken hat, aber es wird vielleicht die Diskus- sion ein wenig erleichtern, obwohl wir wissen, dass wir die Begriffe nicht klären, endgültig klären werden, denn wer heute »Ensembletheater « oder »Stagione « sagt, weiß natürlich ganz genau, dass es sich hier um modifizierte Begriffe beider handelt. Und wenn mir dabei vielleicht..., Herr ... Intendant Juch? Fangen Sie bitte an.

[11:25]

JUCH
Ich finde, dass vielleicht die These und Antithese »Stagione « und »Ensembletheater « nicht ganz richtig ist oder nicht ganz vollständig ist. Denn auf der einen Seite dreht es sich um eine reine Betriebsform, und auf der anderen Seite um ein künstlerisches Problem. Man müsste also vielleicht dem Ensembletheater eher den Begriff des Repertoiretheaters entgegensetzen und dem Begriff der Stagione oder Stagionetheaters eher, ja, das ist wieder schwer, da einen Begriff zu finden, aber hier sind sowohl betrieblich wie künstlerisch die Erschei- nungsformen erkennbar, die wir unter Stagionetheater verstehen.

Betrieblich gesehen ist das Repertoiretheater oder, wie es hier heißt, Ensembletheater, eben eine Form der Theaterführung, die im deutschsprachigen Raum Tradition und bisher immer geübt wurde, die darin besteht, dass man ein Ensemble, und zwar nicht nur Solisten, sondern den Chor, das Orchester, das technische Per- sonal, ganzjährig verpflichtet hat. Wobei Urlaubsklauseln ja dieses System sinnvoll unterbrechen können [Schmunzeln im Publikum]. Während im Stagionesys- tem für eine bestimmte, kurze Zeit, Stagione ist ja Saison, ist eine kurze Saison, ein bestimmtes Ensemble ad hoc verpflichtet wird, hier sehen wir schon die Begriffs- verwirrung, dass es in Fällen von Stagionebetrieben wie zum Beispiel, nehmen wir die Salzburger Festspiele oder die Mailänder Scala, geradezu zu einer idealen Ensemblearbeit kommen kann, weil eben dort ein En- semble tätig ist, das sowohl die Proben wie die Premiere und auch die folgenden Aufführungen spielt bzw. singt. Der Unterschied ist nur in der Verpflichtung, es wird also ein Ensemble für einen bestimmten Zweck und für eine bestimmte Zeit verpflichtet, während im Falle des Repertoiretheaters und Ensembletheaters wird das En- semble für ein Unternehmen, für ein Institut, für eine Stadt oder wie Sie wollen, verpflichtet. Darin liegt ein sehr wesentlicher Unterschied. Weiß nicht, ob das für den Anfang genügt, Herr Prof. Fichtner.

[13:43]

FIECHTNER
Ja, vielleicht können wir das noch ein wenig ... ideolo- gisch untermauern...

ADORNO
Ja, also, ich möchte zunächst, da ich schon die Rolle des Philosophen übernommen habe, sagen, dass ich infolgedessen Definitionen im Prinzip nicht sehr hold bin [Schmunzeln auf dem Podium]. Und ich glaube, wir brauchen auch gar nicht uns so sehr darauf zu kapri- zieren nun also möglichst exakt zu sagen, was mit den Begriffen gemeint ist. Im Allgemeinen empfiehlt es sich ja, zur Orientierung über solche Begriffe, sie sich zu verdeutlichen an Extremen: Also ein solches Extrem ist etwa die frühere Metropolitan Opera mit ihrer Season oder das Teatro Colón, die also für eine ganz beschränk- te Spielzeit, für ein ganz beschränktes, gesellschaftlich sehr genau definiertes Publikum eine sehr beschränkte Anzahl von Werken spielen und dabei wesentlich unter dem Aspekt von Solistenstars stehen und auf der ande- ren Seite also der Typus des Ensembletheaters repräsen- tiert durch die zahllosen mittleren und kleineren Büh-

ne mit selbständigen Opernhäusern, die es früher im deutschen Sprachbereich gegeben hat, und die also mit einem festengagierten Ensemble über Jahre, manchmal über Jahrzehnte gearbeitet haben. Dass es unzählige Überschneidungen gibt, dass selber, darauf hat Herr Intendant Juch ja bereits hingewiesen, das ist nun selber Ausdruck eines Problems, nämlich dessen, dass der traditionelle Begriff des Ensembletheaters in großen Schwierigkeiten ist. Und mit diesem Problem und dem sowohl was es praktisch bedeutet wie auch mit dem, was es geistig-musikalisch bedeutet, damit habe ich, meine ich, sollten wir uns heute Abend ein bisschen abgeben.

Nun, dieses Problem hat zunächst eine Reihe von Gründen, auf die man eingehen muss, um dem, um zu vermeiden, dass man, so vom grünen oder vielmehr roten Tisch herab irgendwelche Ideallösungen angibt, die sich sehr schön anhören und sehr integer und rein anhören, aber unter Umständen dann doch mit der Kom- plexität der Situation nicht recht vereinbar sind. Man kann das das Problem also nur dann fassen, wenn man sieht, dass es wirklich sehr tief wurzelt. Und wenn ich die Zeit nicht allzusehr dadurch monopolisiere, Herr Professor Fiechtner, würde ich darüber gerne noch ein bisschen etwas sagen.

[16:45]

Zunächst ist es also so, dass eine außerordentliche Knappheit von höchstqualifizierten Künstlern, vor allem von höchstrangigen Solisten, Opernsolisten und Dirigenten heute gibt, so dass kaum mehr ein Opern- haus, ein Ensembleopernhaus in der Lage ist, sehr an- spruchsvolle Werke nur mit dem eigenen Ensemble zu bestreiten. Also, Sie alle wissen ja, dass sozusagen Tris- tan und Isolde im gesamten deutschen und nicht nur deutschen Sprachbereich fast immer von dem selben Paar dargestellt werden, das ist also prototypisch für diese Situation. Das hängt damit zusammen, dass eine gewisse Krisis auch in der Produktion der Oper zu beobachten ist. Ich möchte die These gleich aufstellen, dass die Schwierigkeiten in der Wiedergabe der Oper in letzter Instanz auf der Problematik der Form beruhen, die immer schon latent vorhanden war, die aber heute außerordentlich akut geworden ist.

Man könnte sagen, dass heute, in der gegenwärti- gen Situation, wenn ich den Mund etwas voll nehmen darf, der Weltgeist nicht mehr so recht mit der Oper ist. In diesem Zusammenhang ist vielleicht daran zu erinnern, dass die beiden eigentlich revolutionären Werke von Schönberg, die revolutionären Bühnenwerke, die Erwartung und Die glückliche Hand, die ja also vor dem ersten Weltkrieg geschrieben sind, den Begriff des tradi- tionellen Operntheaters nicht nur rein kompositorisch, sondern durch ihre ganze Anlage, sprengen. Dass, wenn man für solche Dinge ein Organ hat, sie also so in das normale Theater gar nicht recht passen, und merkwürdigerweise kann man von den interessantesten Büh- nenwerken von Strawinsky, wie von dem Renard und von der Histoire du soldat etwas Ähnliches sagen, die ja nun wirklich zum Ballett transzendieren. Die Bedeutung des Balletts für das heutige Operntheater, auf die Herr Prof. Fiechtner hingewiesen hat, ist sicher kein Zufall, sondern hängt mit diesen Strukturfragen sehr tief zusammen. Das Oeuvre meines Lehrers Alban Berg ist darin wirklich in Hinsicht auf diese Problematik, die ich gestreift habe, die eine und die große Ausnahme, die die Regel, wenn Sie mir das verzeihen, insofern also bestätigt.

[19:33]

Nun, um auf das Empirische zurückzukommen: Die Überbeschäftigung der knapp gewordenen Solisten und Dirigenten verhindert sie dann auch daran, mit ihrer ganzen Energie sich der Arbeit in einem Ensemble zu widmen. Hier ist zu beobachten jenes merkwürdig Zwangshafte des Hin und Her, das zahllose Künstler heute ergriffen hat und das man selber einmal zu analy- sieren hätte, obwohl die Tendenz dazu bei den berühmtesten Dirigenten, also bei Toscanini, bei Furtwängler, bei Bruno Walter, schon vor 30 bis 40 Jahren, sich sehr deutlich abgezeichnet hat. Die Konkurrenz hat einen eigentümlichen Charakter der Lebensangst angenommen, und es gibt sehr viele Künstler, die also, wenn sie nicht gleichzeitig an den berühmtesten Theater der Welt wirken, Operntheatern, das Gefühl haben, dass es aus ist. Das selber diese merkwürdige Fusion auf der einen Seite von unendlich hochgespielter Geltung und auf der anderen Furcht, wie man sie übrigens im Extrem in Hollywood beim Film beobachten kann, wo ja also der Sturz von der äußerten Höhe des Stars zum völlig Unbekannten nun wirklich buchstäblich von einem Tag zum anderen sich vollzieht, das ist ein Phänomen, das man selber einmal wirklich zu studieren hätte und noch gar nicht recht eigentlich analysiert hat. Jedenfalls kann man sagen, dass bei sehr vielen Künstlern, und auch gerade bei hochbegabten jungen Künstlern so, und jün- geren Künstlern, so etwas wie eine Art Gleichgültigkeit gegen die Idee des Aufbaus eines großen Operntheaters herrscht, das also die Ideale etwa, die Mahler dazu be- wogen haben, hier in dieser Stadt in zehn Jahren das Theater zu pflegen und sich zugrunde zu richten, dass etwas Ähnliches heute ja überhaupt kaum mehr nach- vollzogen wird, und dass man darüber überhaupt nicht moralisieren kann, sondern das ist wirklich so und wenn man dann also mit höchstbegabten jungen Opernmusikern, und die müssen gar nicht so jung sein, darüber spricht, dann haben sie immer die besten und die zwingendsten Gründe anzuführen, und man kommt sich als ein Dummchen vor, wenn man dagegen irgend-

etwas sagt.

[22:24]

Nun, sehr oft wird gesagt, ein dritter Grund für diese Tendenz sei das Bedürfnis des Publikums nach Perfektion. Ich möchte gleich sagen, dass zwar ohne Frage ein bestimmtes Perfektionsideal, über das wir uns zu unter- halten haben werden und dessen Perfektion im Übrigen gar nicht unproblematisch ist, sich im Gefolge dieser ganzen Entwicklung zum Stagione- oder Startheater durchgesetzt hat, ich habe aber meine großen Zweifel daran, trotz der Verbreitung der Schallplatten, dass ge- rade das bei dem Publikum so tief geht, sondern dass da im Allgemeinen viel eher eine Art von Fetischismus der großen arrivierten Namen waltet, als dass nun wirklich die Leistungen selbst so also an dieser angeblichen Vorstellung des Einmaligen gemessen würden.

Es spielt sich da etwas ab, und ich komme nochmals auf die Anregung zurück, die Sie gegeben haben, was man die Ballettisierung der Oper vielleicht nennen kann, vom Publikum aus, das heißt es gibt bestimmte Gruppen von Menschen, die so wie man in angelsächsischen Ländern von »Ballettomanie « spricht, sich dann also als Opera-Fans bezeichnen und so als eine Art von Spezialität, die aber gleichsam aus der lebendigen Kultur herausgeschnitten ist, sich ständig um die Oper kümmern, aber in einer Weise, ja also, die eben diesen, ja, merkwürdig isolierten und zugleich geistig etwas unverbindlichen, und gar musikalisch und kompositorisch etwas unverbindlichen Charakter angenommen hat, dafür gibt es äußerlich ein sehr krasses Symbol, dass man in der Diskussion über das Stagionetheater auch vielleicht behandeln und analysieren sollte, nämlich das Bedürfnis, in jedem Land womöglich die Opern in ihrer Originalsprache zu vernehmen, wodurch also das Italienische dann in der Oper eine ähnliche Art von Privileg erlangt wie im Ballett der russische Stil. Und diese Entwicklung, die gliedert also dann gerade auch in dem Stagionetheater die Oper merkwürdig aus dem lebendigen Musikprozess heraus, was sich ja drastisch daran zeigt, dass also in diesem Theater fast noch mehr als im Repertoiretheater, wenn auch aus ganz anderen Gründen, wirklich substantielle und avancierte moderne Werke die verschwindende Minderheit bilden.

Aber nun, glaube ich, habe ich mehr gesagt, als ich demokratischerweise hätte sagen dürfen und bitte Sie sehr um Entschuldigung.

[Applaus]

[25:25]

FIECHTNER
Ja, Herr Professor, es ist von Ihnen ist das Wort gefallen dass der Zeitgeist, der Weltgeist, dem modernen Opern- werk nicht günstig ist, aber ich glaube, wir haben je- manden hier unter uns, der es immer wieder mit einer ganzen Reihe von, mit Reihen von modernen Werken versucht. Ich bekam einmal, ich glaub es war vor zwei Jahren von der Hamburger Oper eine Einladung, der ich leider nicht folgen konnte, und wenn ich mich nicht täusche, sind dort 14, 15 oder 16 Werke auf dem Reper- toire gestanden. Wie machen Sie das, Herr Intendant Liebermann, zu diesen Werken zu kommen, wie gehen diese Werke, und wie machen Sie das Ihrem Publikum, sagen wir einmal, schmackhaft?

[26:35]

LIEBERMANN
Ja, das ist ein weites Feld ... Ja, wir haben in der Tat den Versuch gemacht in Hamburg, seit vielen Jahren, das habe ich nicht begonnen, das hat Doktor Rennert begonnen, vor etwa 20 Jahren jetzt, die moderne Oper zu pflegen, und da ich mit Rennert der Auffassung bin, dass nur die Wiederbegegnung mit Musik, welcher Art auch immer, dass nur die Wiederbegegnung eventuell zur Liebe führt, glaubte ich mit Rennert zusammen, dass man diese Stücke nicht an einer Premiere oder an zwei oder drei Abenden spielen darf, sondern wenn man sie schon spielt und wenn man also sich dazu bekennt, das moderne Theater zu pflegen, dann glaube ich, dass man versuchen muss, diese Stücke ins Repertoire zu bringen und sie dem Publikum immer und immer wieder vorzusetzen, genau wie den Tristan, genau wie die Aida. Denn die Wiederbegeg ... das Wiedererkennen von Musik ist ja eigentlich das, was das Publikum glücklich macht. Und Wiederkennen ist nur möglich beim Wie- derhören. Und infolgedessen geht es uns darum, diese Stücke nicht einfach zu einer Publicity-Angelegenheit zu machen, an der die ganze Presse da ist und schreibt, also die haben ein modernes Stück gemacht und man hat mal wieder was über Hamburg gelesen, sondern wir glauben, dass man diese Stücke wirklich ins Repertoire bringen muss und sie dort halten muss. Moderne Stücke ins Repertoire zu bringen und im Repertoire zu halten, das allerdings führt uns wieder zum Thema, das ist nur möglich mit einem Ensemble. Es gibt nämlich für diese Stücke keine Gäste. Es ist gar nicht möglich, jemanden aus Mailand oder aus Berlin kommen zu lassen, weil das Stück nur bei uns gespielt wird. Infolgedessen sind wir auf ein Ensemble angewiesen. Nun soll man aber nicht davon ausgehen zu glauben, dass nun also das nun nur für die modernen Opern gelte. Wir haben in Hamburg jetzt ein Repertoire von 62 Opern, von denen sind 15 modern und 45 gehören der Vergangenheit an. Es ist gar nicht unbedingt nötig, dass die Leute das ganze Jahr da sind. Im Augenblick, wenn man genug Stücke hat, um mit denen, die da sind, die Stücke aufzuführen, kann man ruhig drei Monate, vier Monate warten, bis man alle, nämlich die gesamte Premierenbesetzung wieder hat, und dann spielt man das Stück wieder mit zwei Proben. Das wäre also die Möglichkeit, ein Ensemble zu haben... Ich glaube sowieso, dass die Gegenüber- stellung Stagione / Ensemble bereits ein fragwürdiges Unternehmen ist. Denn: Es ist gar keine Antithese. Man kann wunderbar ein ganz herrliches Ensemble haben und dann herrliche Gäste dazu. Es ist kein Grund, wa- rum das eine nicht getan werden soll und warum jeden Abend jemand anderer in einer... Es kommt noch etwas dazu, ich muss mich unterbrechen: Ich glaube an Regie. [Unruhe im Publikum] Und weil ich an Regie glaube, weil ich also glaube, dass zu einem gewissen Grade ... besonders in der modernen Oper glaube ich an die Su- prematie des Visuellen. Ich glaube, dass das Auge eine ungeheure Rolle spielt, um das Ohr gefügig zu machen. Und da ich an Regie glaube, sehe ich einfach nicht ein, warum ein Mann wie Felsenstein bei uns drei Mona- te Traviata oder Rigoletto probieren soll, damit in der fünften Vorstellung ‚ne neue Gilda singt. Ich halte das einfach für Unfug und herausgeschmissenes Geld. Ich glaube, man sollte diese Aufführungen, und wir tun das nun bei der Traviata seit sechs Jahren, nie spielen, wenn nicht die Premierenbesetzung da ist. Gut, das Stück kommt vielleicht nur fünf-, sechsmal im Jahr, aber das genügt ja vollständig, wenn das Repertoire groß genug ist, um die Aufführungen, mit anderen Aufführungen das Abonnement zu füllen. Es ist nicht der geringste Einwand dagegen, warum nicht die gesamte Weltklas- se in einem Theater singen sollte, schon um Maßstäbe zu setzen, schon um Vergleiche zu ermöglichen zum »standard « des eigenen Ensembles, schon, um even- tuelle Korrekturen anzubringen, an den nicht immer so leicht vergleichbaren Schallplattenaufnahmen, eine gewisse Korrektur des Live ist manchmal ganz gut. Es ist also gar kein Einwand dagegen, dass Spitzenkräfte an jedem Theater gastieren. Es gibt nicht so viele, dass sie länger als vier Wochen ausfüllen könnten. Und was mich fürch..., was ich befürchte, und warum ich also an das Ensemble immer wieder als Grundlage eines Thea- ters glaube, ist, dass ich meine, dass man nur mit einem Ensemble, ob modern oder alt, oder von Monteverdi bis Alban Berg, dass man nur mit einem Ensemble das Niveau des Hauses garantieren kann.

[Applaus]

[31:48]
FIECHTNER
Sagen Sie bitte, Herr Intendant Liebermann, wenn man das, die Aufnahme von modernen Werken ins Repertoire empfiehlt, so kann man besonders von den Inten- danten, die ja auch letzten Endes für die Ausgaben des Hauses verantwortlich sind, immer wieder hören, ja,

da gehen die Leute eben nicht hinein, das ist hinaus- geschmissenes Geld. Zum Thema hinausgeschmissenes Geld möchte ich selbst von meinem Standpunkt aus et- was sagen, aber nun, wie oft sind Sie dem bösen Begriff, das mit dem Wort der »Ur-Derniere « bezeichnet wird, begegnet? Hatten sie auch Stücke unter den vielen, die sie aufgeführt haben, die partout nicht gingen?

LIEBERMANN
Lieber Herr Fiechtner, es ist nicht jeder ein Mozart. [Ge- lächter, Gemurmel im Publikum] Und mal ist es ... Und manchmal.

ADORNO [?]
Wem erzähln Sie das?

LIEBERMANN
Wem erzähl ich das? [Gelächter im Publikum und bei Liebermann] Manchmal gelingt’s, manchmal gelingt’s nicht, ich glaube ... und vielleicht ist das eine Klimafrage. Ich glaube, dass man das gar nicht generalisieren kann. Wir haben in Hamburg, und vielleicht ist das auch in Berlin so, also im Norden, haben wir ein neugieriges Publikum, die Leute wollen wissen, was in den moder- nen Entwicklungen passiert, sie wollen unter Umstän- den schimpfen, sie wollen buhen, sie wollen Krach machen, aber sie wollen es sehen. Das ist wesentlich. Ich kann Ihnen zum Beispiel sagen, dass die neue Oper von Blacher, die wir jetzt etwa sechsmal gegeben haben, sie kam in dieser Spielzeit heraus, mit den elektronischen Bändern, schon an der Premiere ein ungeheurer Skan- dal war, und der hat sich gehalten, der Skandal. [Gelächter im Publikum] Aber, meine Damen und Herren, wir haben an dem letzten, bei der letzten Aufführung der Notlandung, also der Blacher-Oper, genau 18 Karten weniger verkauft als für den Carlos am Abend vorher. Nun könnte man sagen, der Carlos war wahrscheinlich so mies, dass keiner reingegangen ist, ich seh’s Herrn Löbl an, aber es ist also jedenfalls so, dass es ein neugie- riges Publikum gibt, es gibt ein Publikum, das auch vom Auge sehr viel her bezieht, es gibt dann wieder ein süd- liches Klima, ich würde sagen: München, Wien, Mai- land gehören dazu, die ungeheuer an die Suprematie des Klanglichen glauben, also das lässt sich vielleicht nicht vergleichen, man wahrscheinlich nicht von einer Stadt auf die andere irgendetwas verpflanzen. Das, was für uns gilt, muss nicht für andere Städte gelten, weil es wirklich, das Klima einer Landschaft kann dabei eine große Rolle spielen. Aber ich glaube auf der ande- ren Seite, dass bei einem subventionierten Betrieb, der also nicht auf Einnahmen im wahren Sinne des Wor- tes angewiesen ist, die Pflicht und Schuldigkeit es ist, den Dingen nachzugehen, den modernen Dingen eine Chance zu geben, den Versuch zu machen, immer wieder zu sehen, wohin geht die neue Musik? Vielleicht in Sackgassen, vielleicht ein Genie, wir wissen es vorher nicht, und wir wissen es vielleicht erst in 20 Jahren. Es ist heute nicht der Moment das zu entscheiden, weil die Geschichte entscheidet diese Dinge, man weiß sie nicht im Augenblick. Aber die Chance geben, das »zum Klingen bringen « ist, glaube ich, eine Aufgabe im Augen- blick, wo die Demokratie, der Steuerzahler, die Stadt, das Land, die Gelder zur Verfügung stellen, um diese Dinge zu tun.

[Applaus]

[35:36]

FIECHTNER
Ja, ich möchte ad honorem gloriam der eigenen Stadt doch etwas noch zu bedenken geben. Wien war doch in Kunstdingen eigentlich immer ein wenig schizophren gewesen. Das heißt, es gab die Extremsten auf dem Ge- biet der bildenden Kunst, der Malerei, der Musik, der Dichtung. Es kam die extremsten Dingen, und es kam, es gab das Publikum, das angeblich nicht will. Nun habe ich die letzten Jahre viel Zeit, angenehme Zeit, darauf verwendet herumzufragen, und zwar nicht bei den Leuten, die ich in der Oper sehe, die haben mich nicht interessiert, sondern bei denen, die nicht in die Oper hineingehen, und ich bin da auf sehr merkwür- dige, auf merkwürdige Urteile, im Ganzen gesehen auf ein sehr merkwürdiges Phänomen gekommen. Es gibt in Wien, ich glaube, viele von Ihnen werden’s wissen, größere Kreise, als man glaubt, die an der Oper in einer andern Art interessiert sind wie die Habitués, obwohl sie es sich leisten könnten, in die Oper hineinzugehen. Ich will versuchen, es etwas näher zu definieren. Es gibt, glaube ich, ins Parkett der Oper zwei Wege: Den von der Galerie herab als den gewohnten Opernbesucher. Und den vom allgemeinen Interesse an der Musik, an der Kunst, an der Kulturentwicklung unserer Zeit. Ich habe Menschen, die in der Oper etwas anderes sehen wollen, als größtenteils auf Ihrem Repertoire steht, gefunden in Kreisen der Akademiker, der Lehrer, der sehr zahl- reichen und oft sehr musikalischen Wiener Ärzte, der Architekten, der Maler. Ja, Sie sagen, das ist eine Min- derheit, natürlich ist es eine Minderheit, aber wenn wir die Gesellschaft, und nun will ich nicht dem Soziologen ins Fach pfuschen, als Pyramide ansehen, so besteht die Pyramide aus einer Spitze und aus einer breiten Basis, wobei ich bitte nicht möchte, dass sie mir insinuieren, dass die Spitze unbedingt oben sein müsse, drehen Sie in Gottes Namen die Pyramide auch um und stellen sie sie auf den Kopf, also die Spitze sei unten, und oben sei die Basis, das Publikum, das Recht auf Befriedigung hat. Ich glaube, dass auch diese Spitze – unten! – das Recht hat, bei einem staatlich subventionierten Haus, Opernspielplan berücksichtigt zu werden, denn sie scheint mir, sowohl was die Zahl, wie auch was das Gewicht, wie auch was die kulturelle Bedeutung anbetrifft, doch immerhin berücksichtigenswert. Ein Generationen- problem sehe ich nicht, darüber wird vielleicht noch zu sprechen sein. Es ist eher anders, wie man sich’s zu- nächst einmal vorstellt. Ich kann Ihnen ziemlich genau sagen, was diese Leute sehen wollen, und Sie können mir glauben, dass es sich um hunderte von Tests han- delt, die ich gemacht habe. Die gehen zum Beispiel in die Poppea von Monteverdi. Die schauen sich den einen oder den anderen Mozart an. Die gehen, die versäumen keine Aufführung des Wozzeck, die waren zwei- oder dreimal in Rake‘s Progress. Und die besuchen jeden modernen Ballettabend. Das sind die Leute, sozusagen, die man weniger sieht, und mit denen Sie wahrscheinlich auch gar nicht sehr rechnen können.

[Pause] Tja.

NICHT IDENTIFIZIERTER SPRECHER
Ja...

[39:20]

THALHAMMER
Darf ich da vielleicht etwas aus meiner anderen Sphäre dazu sagen. Ich pflichte Ihnen vollkommen bei, Herr Professor, dass die moderne Literatur, vor allem an ei- nem staatlich subventionierten Opernhaus [Zwischen- rufe: lauter!] Ich pflichte dem Herrn Professor voll darin bei, dass die moderne Opernliteratur an einem staatlich subventionierten Opernhaus gepflegt werden soll. Ich glaube auch nicht an ein sogenanntes unwilliges Publikum. Ich bin überzeugt, dass das Publikum durchaus ansprechbar ist, wenn man die richtigen Wege wählt. Aber in Wien tritt neben denen von Ih..., den von Ihnen erwähnten Kreisen noch etwas sehr deutlich hinzu, was Sie Herr Professor, nicht in diesem Ausmaß wahrschein- lich erfahren, das ist das Publikum aus den Bundesländern und das internationale Publikum, und da möchte ich eher sprechen von unwilligen Verkehrsbüros, die den Gästen aus dem Ausland ein gewisses, sagen wir, konservatives Programm auf den Speiszettl mit auf den Weg geben. Es ist der Unwillen schon groß, wenn Ri- chard Strauss gegeben wird. Das Liebste ist wohl eine italienische Oper, eventuell auch ein Mozart. Mir wur- de unlängst von einem durchaus der gebildeten und der gehobenen Gesellschaftsschicht angehörigen Herrn in der Oper, währ... nach einer Mozart-Aufführung erklärt, »Ich [unverständlich] gar nicht so schrecklich, wie ich es mir gedacht habe «. Der Mann war in seinem Hei- matland Repräsentant eines sehr wesentlichen geisti- gen Kreises. Es sind also das Phänomene, die uns auch Sorge machen. Immerhin, das haben wir schon einmal festgestellt: Die Wiener Oper steht in Wien. Deswegen ist für uns in erster Linie die Meinung des Wiener Publikums sehr wesentlich. Und damit komme ich eigentlich an den Anfang der Diskussion ein wenig zurück. Ich bin, verzeihen Sie, Herr Professor, ich bin Jurist, und ich habe es wahnsinnig gerne, Begriffe zu definieren, und wir sind bis jetzt an dieser Definition mit viel Glück vorbeigekommen. Nun höre ich ständig im gesellschaftlichen Kreis den Streit über dieses Thema, das wir heute uns gewählt haben. Es muss also das Publikum eine Vorstellung von dem haben, worüber es streitet. Wenn wir nun heute darüber diskutieren, ob Stagione oder ob Ensembletheater – ich glaube wir sollten doch in irgendeiner Form versuchen, die Grenzen ein wenig enger zu ziehen oder doch zu sagen, was es ist. Jetzt kommt eine scheinbare Perfidie: Ich wende mich an die Presse, [Pause, Lachen], das ja zum Teil organischer Vox Populi ist. Und würde Sie bitten, wie sie dazu denken.

[42:43]

SCHNEIBER
Ja, also flankiert von einer Intendanz und in Nachbar- schaft eines weiteren, eines Kammersänger, eines Kul- turphilosophen, eines Kulturadministratoren, kann ich sagen, als Kritiker hab ich es nach dem bekannten, be- rühmtem Wort gut, als Kritiker darf ich ja verglichen werden mit dem Eunuchen, der zwar weiß, wie’s gemacht wird, aber ... nun ... möchte ich [Gelächter im Publikum, auf dem Podium: »Schneiden, schneiden «] Nun möchte ich dazu sagen: Ich gehe in meiner Be- scheidenheit noch weiter: Ich weiß es meistens nur, wie man‘s nicht macht. Die Analyse des Negativen bietet sich rasch an. Im Übrigen habe ich mit Vergnügen be- merkt, dass hier eine Lanze für das Ensembletheater ge- brochen wurde, die indessen meine stille Liebe für eine gute Stagione nicht dämpfen kann, nicht nur in Mai- land, sondern auch bei den Salzburger Festspielen, und auch, wenn man so will, bei der Falstaff-Produktion der Wiener Staatsoper, die präziser gesagt eine Reprodukti- on war. Die Frage, die ich nun dann weitergeben werde, die Herr Liebermann vorhin zum Teil beantwortet hat, die Frage, die ich dann an den Herrn Intendanten Juch weiterspielen will, ist: Wir haben nun einmal im Land der Oper – das ist nicht Italien, ich bitte das ja nicht zu glauben, Italien ist das Land der Sänger. Die Tage, die in Italien Opern gespielt werden, werden von vielleicht zwei deutschen Teilstaaten im Jahr mühelos übertroffen. Das Land der Oper ist Deutschland, Österreich, die deutschsprachige Schweiz: dort, wo man 300 Tage im Jahr Theater spielt, in ungefähr 70 Theatern. Wir haben also nun in diesen Theatern 300 Tage Spielzeit, 300, 300 Vorstellungen pro Jahr, nicht mit eingerechnet, was an Samstagen und Sonntagen am Nachmittag, wenn

die Sonne früh untergeht, noch nachmittags geleis- tet wird, von Peterchens Mondfahrt über Puppenfee und Hänsel und Gretel, für die Abonnenten von übermorgen. Der Ehrgeiz der Intendanten war es und ist es zum Teil auch noch heute, vorzulegen, das in einem Monat kein Stück zweimal kommt. Heute gelingt das schon schwer. Das heißt, das staatlich subventionierte Theater ist ein Bildungstheater. Es ist zwar bei uns hier auch – wir ten- dieren schon ein bisschen zum südlichen Glanz der Scala – es ist bei uns hier auch, und jetzt im Deutschland des Wunderwirtschaftslandes, ein Repräsentationstheater. Aber es hat in erster Linie zu präsentieren. Es hat zu präsentieren die Leistung des Hauses, denke ich mir, und es hat zu präsentieren, was es an Opernschaffen gibt. Die Vielzahl der Werke, gebrochen – nicht im Sinne von zerbrochen – durch die Darstellung, durch das Ensemble. Die Frage nun, nachdem die Opern abster- ben, nachdem immer, man kann es fast sagen, an Jahr- zehnten messen, wie viele Opern aus dem Spielplan bei uns ausscheiden und nicht mehr gespielt werden, wo- hin ein Intendant, der 300 Abende im Jahr zu bestücken hat, kommt, wenn er nicht die neue Musik mit reingibt. Wenn er nicht, wie es also Herr Liebermann macht, wie es Herr Juch in Düsseldorf gemacht hat und jetzt in Zürich macht, das zeitgenössische Schaffen in diesen Spielplan mit einbezieht. Es ist nicht zu erwarten – das ist der entscheidende Nachteil der Stagione, und auch gar nicht ihre Aufgabe! –dass das Stagionetheater, nicht die Produktions- oder Reproduktionsform der Stagione, sondern dass eine Mailänder Scala neue Stücke spielt. Sie tut es zuweilen, aber sehr zum Missfallen des Publi- kums. Und ein Großteil dieses Publikums zahlt und hält sich dieses Theaters, finanziert es aus seinen Mitteln und zahlt noch teure Eintrittskarten, spiegelt sich im Glanz der Repräsentationsvorstellungen selbst wieder. Es geht zu sich selbst ins Theater. Darüber darf die Galerie, die Stimmung machen darf, nicht hinwegtäuschen, die kommen nicht in die Pausenräume der Nobiles. Die Stagione, wie sie in Mailand und in anderen Städt... italienischen Städten herrscht, ist der Nachfahre des höfischen Theaters. Die Gesellschaft von heute, sie bestellt sich, was sie will, sie will nicht gekränkt werden, sie will nicht ironisiert werden, sie möchte nicht mit harten Dingen konfrontiert werden. Das Publikum, das in ein subventioniertes Theater zu verbilligten Abonnementpreisen geht, hat es auf sich zu nehmen, konfrontiert zu werden.

In Frankfurt, ich habe dieser Tage in Frankfurt eine Diskussion miterlebt nach der Schostakowitsch-Aufführung Die Nase, wo Herr Buckwitz, der Intendant, der Dirigent der Aufführung, einige Herren vom Theater, einer auch vom Kulturausschuss, sich dem Publikum gestellt haben, von dem ein Teil entrüstet war, dass es bei sieben Premieren im Abonnement auch ein neues Werk dabeihat. Auch eine entrüstete Stimme darüber, dass Wozzeck seit 1945 schon zum zweiten Mal neu einstudiert ist, und die Ägyptische Helena von Strauss noch nicht. Ich frage nun, ob Herr Intendant Juch, der in Zürich sein aggressives Spielplanvorhaben von der Düsseldorfer Oper auf anderem Boden weiterführt, die Erfahrungen des Intendanten Liebermann teilen kann, was das Publikum betrifft.

[48:47]

JUCH
Dazu möchte ich folgendes sagen: Es ist tatsächlich sehr wichtig, von welchem Klima, also von welcher Stadt man spricht. Und ich glaube, dass wir die Haupt- frage, die Titelfrage des heutigen Abends, Ensemble- theater oder Stagionetheater auch darauf einschränken sollten, wofür: ein Rezept für bestimmte Häuser oder für ein bestimmtes Haus oder ein Rezept für alle Opern- häuser. Das ist die Frage, wie das verstanden sein soll. Was die, von diesem Klima aus gesehen muss ich leider sagen, dass ich sowohl in Deutschland wie auch in der Schweiz, manche Enttäuschung erlebt habe, weil ich von hier komme und weil ich von Wien gewohnt war, dass die Oper das wichtigste, Nummer eins ist. Alles an- dere, Regierungskrisen selbst etc., sind wesentlich unwichtiger als die sekundärsten Dinge selbst in der Oper. Da wurde ich in meinem nun zehn, zwölf, dreizehnjäh- rigen Auslandsaufenthalten in anderen Städten eines Anderen belehrt. Ich habe fast überall die Bemer... die Beobachtung gemacht, dass das Publikum, das größere Publikum interessiert ist für das Schauspiel einerseits, und auf dem musikalischen Sektor für das für die sin- fonische Musik, Kammermusik, et cetera. Das Stiefkind war merkwürdigerweise überall die Oper.

Ich habe nun in Düsseldorf dadurch, dass ich zwei Häuser hatte, mit einem, möchte ich sagen, administra- tiven Trick, die zeitgenössische Oper besonders forcie- ren können, aber nicht deswegen, leider muss ich das sagen, weil es vom Publikum verlangt wurde. Der admi- nistrative Trick hat darin bestanden, dass wir ein sehr ausgebautes Abonnementsystem sowohl in der einen Stadt Düsseldorf wie auch in der anderen Stadt Duis- burg hatten, und eine moderne Oper aufzuführen, für mich zwanzig sichere Wiederholungsvorstellungen be- deutet hat. Das hat natürlich großartig ausgesehen, und eine Zeit lang waren wir in Deutschland das führende Theater in der Moderne, es hat also nirgends so viele Aufführungen moderner Werke und vor allem auch Pre- mieren innerhalb eines Jahresrhythmus von Premieren wie bei uns gegeben. Ich hab einmal die Zahl der Titel, die wir diesen neun Jahren die ich draußen die Deutsche Oper am Rhein geleitet habe, an modernen Werken her- ausgebracht haben, ich hab sie leider inzwischen schon vergessen, es ist auch nicht so wichtig, weil es, eben wie ich sagte, sehr eng mit dem Wirtschaftlichen oder mit dem Organisatorischen zusammenhängt. Denn, was heißt denn, es ist früher das Wort gefallen: eine Oper geht oder geht nicht oder zieht oder zieht nicht. Das heißt doch, der eigentliche Gradmesser dafür ist doch nur der freie Verkauf, und ich bekomme dann auch im- mer von denjenigen Abonnenten, die böse sind, dass man zeitgenössische Werke aufführt, den Hinweis: »Ja, warum zwingen Sie uns im Abonnement dazu? Trauen Sie sich doch einmal, diese Werke in offenen Vorstellungen zu geben und Sie werden sehen wie viele Leute hineinkommen! « Solche Briefe hab ich in Düsseldorf bekommen, und bekomme ich auch in Zürich. Ich muss ganz offen sagen, ich hab sie auch in der Volksoper bekommen.

[Gelächter]

Es gehören also diese Dinge engstens zusammen, und ich kann zum Beispiel in Zürich lang nicht diesen Plan verwirklichen, weil es dort nur fünf Abonnements gibt und eine Premiere, das heißt die Premiere plus fünf Abonnementvorstellungen ist sechs, und wenn ich Glück habe und ich bringe noch eine Landvorstellung oder so etwas dazu, sind es sieben Vorstellungen, die ein modernes Werk tragen können, mehr leider nicht. Das ist aber, da man auch wieder sagen, für eine Stadt wie Zürich mit 500.000 Einwohnern wieder sehr schön und sehr viel, denn es gibt eine Menge von deutschen großen Städten, wo eben auch die Zugkraft, oder wie sagen, die Dauer der Aufführungen eines modernen Werkes einicht über sieben bis höchstens zehn hinaus- kommt. Das Wunder Liebermann in Hamburg ist ein ganz besonderer Fall, und ich möchte ihn gern fragen, wie das überhaupt wirtschaftlich möglich ist, bzw. ich bekenne ganz offen, dass ich ihn darum beneide.

[Applaus]

[53:11]

ADORNO
Also, ich möchte zunächst sagen, die Bemerkungen, die Herr Prof. Fiechtner, über die Soziologie des Opernpublikums [Zwischenrufe: lauter!] aufgrund einer eigenen Beobachtung gemacht hat, die kann ich bis zu einem gewissen Grad aufgrund von Erhebungsmethoden der Soziologie bestätigen. An unserm Institut ist in der sta- tistischen Abteilung von meinem Kollegen Gunzert, eine Erhebung durchgeführt worden, bei der sich also auch gezeigt hat eine merkwürdige Opernfremdheit der Intellektuellen in einem weitesten Sinn, und eine ganz merkwürdige, ja, Selektivität des Opernpublikums. Man kann sagen, ich kann das jetzt nur thesenhaft andeuten, es würde viel zu weit führen, das zu exponieren, dass also so der typische Opern-Habitué in Reichsdeutschland jedenfalls, ein Mensch ist, der auf der einen Seite seine Zugehörigkeit zur Kultur unter Beweis stellen möchte und auf andern Seite das aber geistig sich möglich wenig kosten lassen möchte und der überdies noch die Ideologie so der absinkenden und bedrohten Élite vertritt, also »in unserer Zeit, da gab’s noch schö- ne Opern mit Melodien, « so wie Sie es beschrieben ha- ben von dieser unseligen Frankfurter Diskussion, »und heute, da kann man ja nichts mehr behalten «. Das ist eine ganz spezifische Mentalität des Opernpublikums. Und über diese, diese Mentalität müsste man durchbre- chen, einerseits indem man überhaupt die Menschen, die im Allgemeinen die Oper frequentieren, lehrt, eine Oper als Kunstwerk und nicht als eine Art von zoologi- schem Garten, von schönen Stimmen und anderen phy- siologischen Abnormitäten zu betrachten [Gelächter im Publikum] und die man a.., und auf der anderen Seite dadurch, und da ist nun die Frage der Programmpolitik entscheiden, den Menschen also auch Werke vorsetzt, die sie dazu zwingen, geistig ernsthaft dran teilzuneh- men, und, und das halte für ich für mindestens so wich- tig, dass man die den traditionellen Vorrat musikalisch so durchleuchtet, und die traditionellen Dinge, und das bezieht sich nicht nur auf die Regie, sondern mindes- tens so sehr auch auf die Musik, so neu anschaut, also so wirklich die Schlamperei der Tradition davon weg- fegt, dass man überhaupt erst wieder fähig ist, diese Werke selber einmal zu sehen. Also insofern kann man sagen, ist das Problem der Oper auch, und ich hoffe, sie werden mich nicht missverstehen, eine Art von Erziehungsarbeit.

[56:15]

Ich möchte nun doch noch eine Frage jetzt wenigstens aufwerfen, die wir dann behandeln sollten, meinem Gefühl nach. Also, ich, wenn ich auch meine Position beziehen darf, dann stehe ich äußerst entschieden auf dem Standpunkt des Ensembletheaters, wenn wir schon ein- mal diese, diese Alternative überhaupt haben. Aber ich möchte dazu nun eine Art umgekehrte Beweisführung, um diese Position zu stützen, vorbringen: Nämlich die Frage, ob die Perfektion des Stagione-Theaters tatsächlich so perfekt ist. Diese Perfektion geht ja sehr wesent- lich auf das Modell von Toscanini zurück. Und ich wür- de mich anheischig machen, Ihnen anhand der ja, des sehr reichen Plattenmaterials, das da zur Verfügung ist, zu zeigen, dass die berühmte Werktreue und Authentizität der Interpretationen von Toscanini etwas außer- ordentlich Fragwürdiges ist. Die Perfektion des Stagio- netheaters hat bestenfalls etwas von einem möglichst hochgeputschten Funktionieren, vom Streamlining, von einem, von etwas, also, so wie ein Cardillac also glänzt und wunderbar abschnurrt, aber es ist vielmehr ein Ideal der Perfektion der Mittel als eine Perfektion in der Angemessenheit an die Zwecke. Und wenn man von Fragen also der Darstellung der musikalischen Struktur, des strukturellen Hörens herkommt, dann wird man finden, dass es da an diesen sogenannten Spitzen gar nicht so spitzenhaft zugeht, während umgekehrt jeder Musiker mir bestätigen wird, dass man im Allgemeinen also mit Leuten, die auch nicht so arriviert und keine solchen Stars sind wie die der Stagionetheater, dass man mit denen viel unbefangener arbeiten kann, dass sie nicht so leicht beleidigt sind, dass sie sich viel eher also was Musikalisches sagen lassen, alle diese Dinge, als es bei Menschen der Fall ist, die angeblich immer alles schon wissen, und wenn man mit ihnen im Ernst an die musikalischen Probleme herangeht, es gar nicht machen kann, weil sie schon nach San Francisco weiterfliegen müssen [kurzes Schmunzeln im Publikum]. Also ich würde denken, dass diesem ganzen Stagionebetrieb, der einen, eine Art von falschem Nimbus, von zirkushaftem Nimbus heute hat, die innere Unkraft, die die künstlerische Unkraft sich darin zeigt, dass dieser Glanz ja also ein Element von Tinnef hat, und dass er [leichte Unruhe im Publikum] sehr leicht abbröckelt. Man braucht nur also dabei zu beobachten, wie rasch solche Aufführungen, wenn sie also mit den Starsolis- ten und von einem Stardirigenten eingepeitscht worden sind, und wenn dann die Hauptbeteiligten in alle Win- de zerstreut werden, wie rasch und in welcher fürch- terlichen Weise dann diese Aufführungen abbröckeln, um sich darüber klarzuwerden. Also ich würde sagen: Die, so wenig ich die Realität dieser Tendenz verkenne, die soziologische Gründe hat, so wenig bin ich von der künstlerischen Notwendigkeit dieser Tendenz überzeugt, und da gilt also wirklich der Satz: Bangemachen gilt nicht. Der Glaube, dass also ein hochgepeitschtes Stagionetheater künstlerisch einem Ensembletheater überlegen sei, ist ein Aberglauben, womit ich den Muff, der also an sehr vielen deutschen Provinzopern mit Ensembletheater herrscht, in keiner Weise verteidigen möchte, wenn da von dem Stagionetheater als etwas Zuch... und, Zugluft meine ich – nicht »Ruckzuck «, sondern Zugluft - hereinkommt, dann würde ich sagen, dann wäre das nur ein sehr großes Glück. Im Übrigen meine ich aber, und vielleicht können wir uns damit auch ein bisschen beschäftigen, dass man wirklich, und damit komme ich doch wieder auf das Problem der Definition zurück, Herr Ministerialrat, dass man doch also in einer wirklich ihrer selbst bewussten Praxis über diese Alternative hinauskommt, indem man gewisse Qualitäten des Stagionetheaters dem Ensemblebetrieb infiltriert, aber gleichzeitig doch an der Idee eines, von Kunst festhält, die einer Kontinuität der künstlerischen Erfahrung bedarf. Also jeder Mensch, der sich mit Kam- mermusik beschäftigt hat, wird mir bestätigen, dass ein Streichquartett, dass viele Jahr miteinander arbeitet, unvergleichlich viel Besseres zustande bringt als vier sogenannte erstklassige Solisten, die sich bei irgendeinem Musikfest zusammentun, um da nun einmal zu zeigen, was eine Sache ist, und es kommt dann, es kommen dann zwar instrumentale Glanzleistungen, aber kein Beethovenquartett zustande und mutatis... [Applaus] Und ich würde denken, mutatis mutandis gilt dasselbe auch für das Ensembletheater, das was ja heute überhaupt in der Kunst droht, ist dieses eigentümliche Mo- ment von Erfahrungsverlust, dass alles punktuell ist, auf den Augenblick gestellt ist, und dass das Moment der Kontinuität darin abstirbt und diesem Moment, das mit sehr tiefen Strukturveränderungen unserer Gesell- schaft zusammenhängt, dem also entgegenzuwirken, obwohl die Chancen dafür gar nicht so gut sind, das halte ich eigentlich für die zentrale Aufgabe des Operntheaters überhaupt.

[Applaus]

[1:02:27]

FIECHTNER
Herr Professor, ich möchte dem nichts hinzufügen und ich glaube es ist dazu nicht viel zu ergänzen, das ist ihr Standpunkt, es ist Ihre Meinung. Ich möchte nur an etwas anknüpfen, nämlich an die Kontinuität, und da ist etwas, worüber wir im kleinen Kreis auch schon öfter gesprochen haben, und was die Sorge, für den Kritiker gilt letzten Endes, was zwischen halb acht, zwischen sieben und zehn Uhr auf der Bühne los ist, beim Parsi- fal zwischen 17 und 23 Uhr, aber doch eine Sorge, nicht wahr, die man nie loswird, und man fragt sich als mit der Kultur befasster Mensch und im Hinblick auf die, die diese Kultur vermitteln: Wie geht das weiter? Wie geht es weiter? Es ist die Rede von der Kontinuität. Und ich möchte jetzt von der Kontinuität der sängerischen Tradition sprechen und unsern verehrten Kollegen Kammersänger Hotter [Applaus] folgendes fragen: Sie waren, glaube ich, weniger reisender Star, und der rei- sende Star, das ist nun einmal ein Phänomen der Zeit, ich kann mich gut an den Stoßseufzer einer großen, vielleicht der größten gegenwärtigen deutschen Prima- donna erinnern, die einmal gesagt hat, sie hat keine größere Sehnsucht, als im gleichen Bett zu schlafen, und womöglich immer im eigenen und gerade das ist ihr verwehrt. Und wenn Sie nun sehen, was sich ihnen da an, verzeihen Sie den hässlichen Ausdruck, an Material darbietet, wie sehen Sie die Dinge, wie sie sind, oder stimmt da das Wort der Apokalypse, dass die, die kommen, die Schlimmeren sein werden?

[1:04:33]

HOTTER
Ja, also ich möchte bei der Gelegenheit auf zwei Punkte eingehen, die Herr Professor Adorno vorhin mit angeführt hat als Gründe, dass das Repertoiretheater, das Ensembletheater sich so schlecht halten lässt heute. Da hörte ich einen Grund, der war der, dass die Sänger, ich gebe gar kein Adjektiv dazu: die Sänger, Angst haben, sie müssten überall singen. Und zum [Zwischenruf: »Lauter! « Kommentar vom Podium: »Ausgerechnet! «, viel Gelächter]. Also es war die Frage gestellt, dass die Sänger aus Angst vor dem schwindenden Ruhm oder vor der abnehmenden Karriere reisen müssen, und es war auch der Punkt erwähnt, es herrsche ein Mangel an Begabung, also ich bin nicht der Meinung ...

ADORNO
Ja aber, wenn ich das sagen darf, bei der Angst im Wesentlichen an Dirigenten gedacht, das möchte ich zur Einschränkung gleich sagen.

HOTTER
Ich hab‘s nicht verstanden. Nein, ich hab’s nicht verstanden.

ADORNO
Ich möchte damit nicht etwa kneifen, aber meine Be- obachtung darin bezieht sich spezifisch auf Dirigenten.

HOTTER
Ja, also ich möchte ... Darf ich‘ also jetzt so sagen, wie ich es verstanden habe? Ich glaub es ist im Wesent- lichen nicht in das Belieben der Sänger gestellt zu rei- sen oder nicht zu reisen, sondern, ich muss das leider sagen, die öffentliche Meinung, ob sie nun die Presse ist oder das Publikum, steht heute auf einem ganz an- deren Standpunkt wie früher, denn ich höre das so oft von Theaterleitern, die sagen, »Ja, Sie müssen irgendwo im Ausland sich Ihren Namen machen « – Nicht nur zu mir, ich meine zu den Sängern! Man muss sich im Ausland seinen Namen machen, und auch das Publikum, wenn Sie gerecht sind, erwartet von den Sängern: »Ach der ist ja immer in Wien, der ist nur zweite Garnitur. « Nicht wahr? Also das ist doch ein Punkt, den wir glaub‘ ich sehr, sehr wesentlich einbeziehen müssen in diese Diskussion. Und dann ist es natürlich in zweiter Linie auch nicht so sehr eine Frage: Wollen wir gerne reisen, sondern: Müssen wir nicht auch aus wirtschaftlichen Gründen reisen? Das ist eine Frage, die wir, glaube ich, nicht ausklammern können, die ist ganz wichtig.

NICHT IDENTFIZIERTER SPRECHER
Sehr wichtig.

HOTTER
Und dann, wenn wir nochmal, ich habe vorhin aus Ih- ren Beifall für die Ausführung von Herrn Intendant Liebermann, gehört, dass Sie – zumindest so schien es mir, ich habe für den Prozentsatz des Beifalls ein ganz gutes Gefühl aus meinem Beruf [Gelächter]. So schien es mir dass also ein Großteil des Publikums, das heute hier ist, doch zum Ensembletheater neigt. Ich weiß nicht, irre ich mich? [Zustimmende Rufe aus dem Publikum] Aber wir wollen jetzt doch glaube ich nicht im Prinzip hinter unser Diskussionsthema ein Fragezeichen setzen und sagen: Wollen wir das eine oder wollen wir das andere oder stimmen wir drüber ein, dass 30% oder 70% oder in irgendeiner Form dafür eingesetzt werden sollen, wir wollen ja auch fragen: Wäre das Ensembletheater das bessere, denn wir wissen ganz genau, alle die hier sind, das so viele Elemente im heutigen Leben sind, die das Ensembletheater nicht mehr in der Form erlauben, wie es einmal war. Und für diejenigen, die das Startheater verfechten, oder das Stagionetheater, wollte ich so ger- ne wissen: Woher kommen denn die Stars? Die fallen doch nicht vom Baum! Stars müssen ja sich auch entwickeln, und wo können sie sich entwickeln, doch nur im Ensembletheater, so wie es eben immer war. Der Sängerberuf ist ein schwerer Beruf, er verlangt von Leuten, die lediglich zum großen Teil eine Stimme besitzen, weder künstlerisch große Ambitionen haben, weder über große Schauspielfähigkeit verfügen, von diesen Leuten verlangt man, dass sie in kürzester Zeit, so wie es im amerikanischen Film zum Beispiel gezeigt wird, die Stars auf der Opernbühne. Dieser Beruf erlernt sich in langen Jahren. Und dafür, aus ganz praktischen Gründen, brauchen wir das Ensembletheater, ob wir’s wollen oder nicht. Das ist meine Meinung.

[Applaus]

[1:08:57]

Und ich darf dazufügen, dasselbe gilt natürlich für die anderen Sektoren im Operntheater auch, ob das nun die Regisseure sind oder die Kapellmeister, auch die müssen ja lernen, die Materie der, hinter der Bühne zu bewältigen, auch für die gilt dasselbe, was für den Sänger gilt.

FIECHTNER
Wenn es einen der Herren interessiert, dazu Stellung zu nehmen, ich glaube es hängt mit dem Ensembletheater eine auch in Wien in der letzten Zeit diskutierte Frage zusammen, nämlich: Landessprache oder Originalsprache, aber das stell‘ ich frei zur Diskussion, wir haben vorher nicht drüber geredet, also wenn jemand eine Meinung dazu hat, so wäre es interessant sie zu hören und sie mit der anderen Meinung, mit anderen Meinun- gen zu konfrontieren.

ADORNO
Ja, also ich hatte ja dazu bereits etwas gesagt, und ich glaube, dass also eines der Mittel, durch das die Opern so galvanisiert und wie mit einer Lackschicht überzogen werden, durch die sie überhaupt an die Menschen lebendig gar nicht mehr herankommen, dieser Usus ist, der in angelsächsischen Ländern herrscht, aber offensichtlich im Zusammenhang mit dem Stagionetheater auch im Deutschsprachigen sich ausbreitet, nämlich die Opern angeblich in ihrer Originalsprache zu singen. Ich meine also, dass ganz einfach es eine Notwendigkeit ist, alle Opern in der Sprache des Landes zu spielen, in dem sie aufgeführt werden, wozu allerdings [Unruhe im Publikum], wozu allerdings hinzugeführt, wozu hinzugefügt werden muss, dass ein großer Teil der Übersetzungen der kurrenten Opern, der bekanntesten, ich nenne hier nur die Beispiele Carmen und Aida, ich wäre bereit, Ihnen sozusagen als Conférencier die schönsten Zitate daraus vorzulegen, auf einem Niveau sind, dessen man sich genieren muss [zaghafter Applaus]. Also das müsste natürlich ganz anders werden. Aber gegenüber diesem Mod... Moment, dass also durch die fremde Sprache die Oper, wie ich es vorhin gesagt habe, »ballettisiert «, also so zu einer Art von Spektakel für Opera-Fans gemacht wird und gar nicht mehr eine unmittelbare Beziehung hat, dafür würde ich also auch den Verlust an Wohllaut in Kauf nehmen, der da, dann also in Gottes Namen bei der Stretta aus dem Troubadour, wenn‘s schon einmal sein muss, sich einstellen wird.

LIEBERMANN
[leise] Ja aber das ist doch ...

FIECHTNER
Eine andere Meinung?

[1:11:31]

LIEBERMANN
Ich glaub, das ist wieder, ich meine, dass das wieder ein ungeheuer lokales Problem ist. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass in einer Stadt wie Wien, die eine so ungeheure Operntradition hat, und jeder kennt seine Butterfly, da spielt’s wirklich keine Rolle, in welcher Spra- che sie gesungen wird, deshalb am besten Italienisch [Zustimmung und Applaus im Publikum], ich meine aber genauso auf der anderen Seite, sagen wir bei- spielsweise in den Vereinigen Staaten, wo es gar keine Operntradition gibt, wo man also das breite Publikum in den letzten zehn Jahren versucht hat an die Oper he- ranzuführen mit Aufführungen von local school perfor- mances und so weiter, dass man dort unter allen Umständen in Englisch spielen sollte, und zwar deswegen, weil ich glaube, dass man mit dem Buch, mit dem, was sich auf dem Theater abspielt, endlich zuerst einmal konfrontiert werden müsste, bevor man es als selbstver- ständlich ansieht, was in der Registerarie passiert. Das können Sie vielleicht, aber das ist nicht von vornherein gegeben, es ist also wieder ein lokales Problem, wo sol- che Dinge sich abspielen.

Wir vergessen doch immer eines: Wir sind sehr lange bei der modernen Oper geblieben, und das hat eigentlich mit unserem Thema ja gar nichts zu tun. Das, was mit unserem Thema zu hat, ist glaube ich etwas, das mit einem sagen wie modernen Anspruch ans Operntheater zusammenhängt, nämlich demjenigen, dass ich eines Tages hoffe, dass vielleicht, wenn Leute, die ins Schauspiel gehen, die sich mit Ionesco, mit Beckett ausein- andersetzen, wenn diese Leute auch die Oper meinen, wenn sie sagen, sie gehen ins Theater. Das haben wir nämlich bis heute noch nicht. Die Oper ist heute noch ein Museum, das die geistige Auseinandersetzung, die Auseinandersetzung mit den Problemen unserer Umgebung passiert im Schauspiel. Da wird sie auch von allen akzeptiert. Woran liegt es aber, dass dieser Tatbestand ist? Er liegt, es liegt vor allem daran, dass die Dramen nicht gespielt werden, sondern nur gesungen. Dass man also keine Aufführungen mehr zustande kriegt, sondern nur Stars an der Rampe. Das, da liegen nun die Proble- me, wo ich fürs Ensemble plädiere, weil ich meine, dass die langfristige Arbeit mit einem Regisseur, um das Dra- ma zu realisieren, und nicht nur das gesungene, sondern das gespielte Drama, das gefühlte Stück, denn wozu schreiben die Komponisten Opern, sie hätten ja für den Konzertsaal schreiben können, wenn sie nicht das Drama auf der Bühne haben wollen! Wenn aber dieses Drama auf der Bühne gespielt wird, dann ist es kaputt, wenn Gäste hereinkommen, das Burgtheater macht das nicht. Oder sollte nicht. [Gelächter] Wobei ich nicht das Burgtheater anspreche, ich kann‘s gar nicht beurteilen, ich meinte das Schauspielhaus an sich, nicht wahr. Und deswegen glaube ich an das Ensemble, weil ich glaube, dass der moderne Weg zur Oper und zu diesen Kreisen, die angesprochen wurden, die nicht in die Oper gehen, nur über die Realisation des Dramas geht und nicht als Konzert in Dekoration.

[Applaus]

[1:14:56]

NICHT IDENTIFIZIERTER SPRECHER – THALHAMMER?
Ich möchte noch etwas zur Sprachlichkeit der Oper sagen. Sie sagten in Amerika kann man das, muss man das selbstverständlich in der Originalsprache singen

LIEBERMANN Nein in Englisch.

NICHT IDENTIFIZIERTER SPRECHER – THALHAMMER?

... Nein in Englisch singen, damit sie’s ja verstehen. Ich weiß nicht, ob wir nicht in 20 Jahren auch ähnlich sind, so weit sind, ich sag das absichtlich provokant, dass wir nichts mehr von den Opern verstehen, was den Inhalt betrifft. 20, 30 Jahren... Ich möchte den Wohlklanger- trag des Italienischen nicht unterschätzen. Ich möchte auch nicht sagen, dass Deutsch gesungen schlecht klingt. Die schlechteste Opernsprache zum Singen ist ohne Zweifel das Französische, [unverständlich] alles nasal überspannt, zumindest von einer gewissen Höhe an, wohingegen sich die slawischen Sprachen hervorragend eignen und das Deutsche sehr gut. Nun haben wir aber ohne Zweifel, und das fürchte ich an der Oper, ja nicht nur den Wohlklang, wenn wir also nicht in einer ganz einschichtigen, fast möchte ich sagen: primitiven Erfahrung und Erfassung der Oper bleiben wollen. Wir haben Opern mit sehr gutem Text, mit wichtigem Text. Ich kann mir, so herrlich eine Bohème italienisch gesungen ist, vorstellen, dass der deutsche Text, der in der Übersetzung gar nicht schlecht ist, es gibt eine sehr, sehr gute, eine ganz hervorragende von einem Wiener Dirigenten [vereinzeltes Gelächter], dass dieser, dieser Text dem literarischen Rang des Vorwurfs gerecht wird und dass es einen Sinn hat, dass es einen Sinn hat, einen solchen Text auch zu erfahren, dass es überhaupt nicht ohne Bedeutung ist für das Verständnis der mu- sikalischen Szene, zu wissen, was gesprochen, also auf der Oper, in der Oper gesungen-gesprochen und gesagt wird. Und dass auch das Wahrnehmen der Qualität und das Erfassen der Qualität, wie eine Szene komponiert wird, davon abhängt, dass man weiß, welche Situation und welcher Dialog nun hier vertont ist. Und dass sich darum bei Opern, die also sehr dialogisch sind und in ihrer Struktur sehr viel Konversation enthalten, daher also die ganzen Buffo-Opern, ob das jetzt Mozart ist oder die italienischen Opern, Rossini und Donizetti, dass ich da sehr für die deutsche Sprache plädiere, für gute Übersetzungen und für die deutsche Sprache. [Applaus setzt ein] Ich weiß, das ist sehr unbefriedigend.

[1:17:39]

FIECHTNER
Wie ist es nun mit einer Frage, die mich egoistischer- weise selbst sehr interessiert, vielleicht auch einige von Ihnen. Ich habe in der letzten, in den letzten Tagen eine Fleißaufgabe gemacht, es täte mir leid, wenn sie umsonst gewesen sein sollte. Wie ist es mit dem Opernschwund nach der Erfahrung vor allem der Herr Intendanten und Opernleiter selbst. Also beispielsweise: Man schaut sich einen modernen Opernführer an, der ja auch nicht dazu da ist, um in die Bibliothek gestellt, sondern um ver- wendet zu werden. Da weist einer aus dem Jahr 1930 82 Werke auf, einer aus dem Jahr 1948: 240, etwa gleichen Umfangs, einer von 1951: 150, einer von 1955: 220. Ich sage ihnen die Zahlen jetzt noch einmal hintereinander, ohne die Jahreszahlen: Also innerhalb von 1930 bis 55 präsentiert es sich mit 82, 240, 150, 220, also ganz enorm schwankend. Die Wiener Staatsoper hatte von 1869 bis 1944 vierhundert Werke gespielt, von 1945 bis 52 genau hundert, ich wiederhol’s noch einmal, damit Sie sich die Zahlen vorstellen können: Von neunund..., 1869 bis 1944 wurden in der Wiener Staatsoper 400 Werke gespielt, also im neuen Haus, von 1945 bis 1952 genau hundert. Damit stimmt ungefähr überein, was Kurt Pahlen, der das größte, den größten Opernführer geschrieben hat, einen Wälzer, ihn zu benützen ist immer eine Frage des physischen Mutes, der hat, er ist 1963 in einem Schweizer Verlag erschienen. Er sagt, dass während seiner Studienzeit, die ich ungefähr schätze in die Jahre etwa 1925 bis 30 gefallen sein könnte, an der Wiener Oper 70-80 Werke am Repertoire standen. Ich zitiere nun, das ist nicht meine, meine Meinung, es kann auch nicht meine Erfahrung sein: Pahlen behauptet, dass heute auf dem internationalen Opernspielplan die zwei- bis dreifache Anzahl steht, also etwa 240, aus meinem kleinen, engen Erfahrungsbereich kann ich Ihnen nur sagen, dass ich in einem Jahr in Frankreich ungefähr 10-12 Werke in einer mittleren Stadt gehört habe, die ich nie auf einer deutschen Bühne zu sehen bekommen habe, und sie wahrscheinlich auch nicht sehen werde. Das ist also sehr verschieden, und da wir ja heute über die Oper im Allgemeinen sprechen, möchte ich gern wissen was Sie zu diesem Repertoire-Schwund halten, er scheint mir doch irgendwie wichtig zu sein. Was dann als Summe in dem Buch von Pahlen angegeben wird, ich hab’s so ungefähr nach den Spalten ausgerechnet, also 1050, das ist natürlich eine, eine reine, das ist eine musikhistorische Zahl, nicht wahr, eine musikhistorische Zahl. Herr Ministerialrat, wieviel haben wir im Augenblick im Re- pertoire der Staatsoper?

[1:21:06]

THALHAMMER Etwa 45.

FIECHTNER Etwa 45 ...

THALHAMMER
Aber wenn wir zur Volksoper hinüberschauen, haben wir ...

FIECHTNER
Der Wiener Volksoper.

THALHAMMER
... in einem bedingten Ausmaß eine bedenkliche Antwort. So glänzende Aufführungen wie Die spanische Stunde, die wirklich gut produziert war, gehen nicht. Es mag nun der Gürtel sein, wird mir sehr oft gesagt. Es liegt eine gewisse Aversion gegen das Haus zweifellos mit in dieser Tatsache drin, aber die wirkliche Attraktion scheint mir in Wien noch immer die große Oper zu sein. Was aus diesem relativ engen und sehr kon- servativen Block herausfällt, kommt schlechter an. Ich darf da nur ein Beispiel aus jüngster Zeit erwähnen: Das normale, das Interesse, das Käuferinteresse an Falstaff hat sich am Anfang überhaupt nicht von dem unter- schieden, dass wir früher bei weniger gängigen Opern hatten. Erst in den letzten zwei Tagen, als offenbar bewusstwurde, dass also ein Bernstein am Pult stehen wird, begann ein lebhaftes und dann ein wirklich überwältigendes Interesse an der Kasse sich einzustellen.

NICHT IDENTIFIZIERTER SPRECHER, SCHNEIBER? Wieviele Opern haben Sie ungefähr im Repertoire, Herr Intendant Liebermann, schätzungsweise?

LIEBERMANN 62 spielen wir.

NICHT IDENTIFIZIERTER SPRECHER, SCHNEIBER? 62...

[Pause] [1:22:54]

JUCH
Ja, ich möchte jetzt von Zürich noch nicht sprechen, weil es jetzt zu kurz ist. [Zustimmung auf dem Podium] Dass wir das frühere Züricher Stadttheater, das eben im Jahr soundsoviel Premieren herausgebracht hat und im nächsten Jahr wieder andere, und mehr oder weniger kein Repertoire gekannt hat, das wir jetzt zu einem rich- tigen Repertoiretheater entwickeln in den ersten beiden Spielzeiten sind es jetzt ungefähr 30 Werke, die wir am Spielplan haben. Aber da muss ich jetzt auch wieder mit der berühmten Frage kommen: was geht und was geht nicht. Was heißt das überhaupt: Was geht? Wir haben es schon glaub‘ ich früher gehört. Es dreht sich in erster Linie darum, was interessiert die Leute und wer geht freiwillig in ein Stück [vereinzelte Lacher] Es gibt zum Beispiel, diese, diese Ziffern, die Herr Professor Fiechtner genannt hat, über den Opernspielplan, also zwischen 100 und 400, die sind auch insofern irreführend, weil ich kann mir ohne weiteres sagen wir, ein mittleres deutschen Theater vorstellen, dass ein so ausgebautes Abonnementsystem hat, das praktisch nur vor aus... vorher ausverkauften Vorstellungen oder Publikum spielt, dass das ohne Weiteres Wagnisse eingehen kann, nicht nur in Richtung moderner, avangardistischer Komponisten, sondern auch in Richtung eines etwas nicht ganz auf der breiten Heeresstraße daherwandelnden Spielplans, sondern eben in dem Heben und Entdecken verborgener Schätze. Das ist auch lokal, das ist klar, dass in Frankreich ganz ein anderer Spielplan ist wie bei uns. Aber ich habe eine Beobachtung in meiner Opern- zeit gemacht, das was der hier nicht anwesende, aber unser Kollege Oskar Fritz Schuh behauptet, das jedes Jahr, er sagt ungefähr jedes Jahre sterben einige Opern aus dem Gesamttopf des Opernspielplans, es sind einige plötzlich nicht mehr aufführbar geworden. Das stimmt tatsächlich, es ist ein Art Schrumpfungsprozess, wenn wir bedenken: Vielleicht ist es in Wien noch möglich, das Tiefland aufzuführen, wenn ich aber in einem deutschen Opernhaus als Intendant das Tiefland aufführen würde, dann würd mich wahrscheinlich Publikum und Presse sehr übel zusetzen. Tiefland wird beispielsweise ist eine der sterbenden Opern, ich will jetzt gar nicht sagen, ob zu Recht oder zu Unrecht, aber es sind Tat- sachen. Wir wissen, dass Meyerbeer nirgends mehr aufführbar ist, und dort, wo man die Versuche gemacht hat, sind sie auch wieder schiefgegangen. Die große Oper, als Gesamtbegriff, ist tot. Ich habe leider schon in der Volksoper im Jahr 47 die Beobach... oder 48 die Beobachtung gemacht, da haben wir geglaubt, jetzt können wir nach dem Krieg wieder Gounod spielen, und das wird so wie früher eine, einen großen Zuzug des Publikums mit sich bringen. Trotz einer erstklassigen Übersetzung hat diese, diese, diese, Margarethe nicht sehr gezogen und hat, ist also weit zurückgegangen unter das, kaufkraftsmäßig, was von dem Krieg der Fall war.

[1:26:09]

HOTTER
Dafür steht sie aber in Frankreich wöchentlich zweimal am Repertoire ...

JUCH
Eben, das ist eines der lokalen Dingen, nicht? In Frank- reich ist sie wieder die Oper, die jede Woche gespielt wird in Paris. Also es ist sehr schwer. Es stirbt tatsächlich immer wieder eine Oper, und das hängt damit zusammen, ich muss es leider sagen, also ich glaube es, vor allem damit zusammen, dass das Repertoire damit schrumpft, dass eben die neue Produktion in unserer Zeit so wenig ist. In den früheren Zeiten, in diesem Zeitraum, den Herr Professor Fiechtner mit den 400 Opern bezeichnet hat, also nehmen wir 1869 bis 1945, ja, was ist in diesem Zeitraum an damals in ihren Jahren, in ihrer Zeit modernen Werken geschaffen worden, wenn wir an die ganze, nicht nur an die Zeit Richard Wagners, sondern an die ganze Nachfolge Wagners, an die Gegenbewegung und so weiter denken, bis zu den Zeiten Alban Bergs rauf. Ja, es ist ja, dabei sind Wer- ke gewesen, die nicht nur dem Publikum, sagen wir, nicht nur als, als Werke von Qualität anzusprechen sind, sondern die auch dem Publikum gefallen haben und in die das Publikum auch mit Begeisterung hinein- gegangen ist, und wir müssen leider die Beobachtung machen, dass eigentlich seit dem Rosenkavalier, und das ist schon sehr lange her, es ist immerhin, seit dem Jahr 1910-11 kein Opernwerk mehr geschrieben worden ist, das sowohl in der Qualität wie auch in seiner Zugkraft, sagen wir jetzt ganz offen jetzt einmal: von der Kasse her gesehen, den Erfolg hatte wie dieses Werk, wie eben der Rosenkavalier. Und es ist also eine sehr lange Zeit jetzt seitdem, in der die neue Produktion nicht Schritt hält mit dem gesamten Opernrepertoire, und daher das Sterben der einzelnen Werke, das es ja früher auch gegeben hat, umso fühlbarer wird und umso sehr sich zu einem Schwund herauswächst

[1:27:50]

FIECHTNER
Ich glaub in Wien muss man von den neuern Werken, soviel ich weiß, noch den Wozzeck dazurechnen, der geht jetzt auch eigentlich normal und gut. Nicht sehr ...

NICHT IDENTIFIZIERTER SPRECHER
Ja, es ist ja lokal überhaupt immer wieder anders, nicht, woanders wird wieder....

FIECHNTNER
Nein, das war eine völlig ungezielte, rein informative Frage, weil das doch ein Phänomen ist, mit dem sich der, jeder, der mit Musik befasst ist, nicht wahr, mit Musik... Musikkritik oder Kulturgeschichte, wie Sie‘s nennen wollten, interessiert sein muss, und man fragt sich also, wo kommt da der Nachschub her und was hat also mit dem, was noch bleibt, zu geschehen.

Möchte irgendjemand, irgendwas [unverständlich]?

ADORNO
Ich würde gerne zu dem Punkt des sogenannten Reper- toireschwunds auch ein paar Worte sagen. Ich glaube nämlich, dass das Problem des Repertoireschwunds ganz eng mit dem Problem des Stagionetheaters zusammenhängt. Also, in Amerika ist es schon vor ungefähr 20 Jahren oder noch vor ungefähr 20 Jahren, ich wage das nicht zu entscheiden, gang und gäbe gewesen ein, ein ziemlich dämlicher Witz: Es gibt nur 15 Opern. Die bestanden also in, aus Verdi, aus Mozart, aus Wa..., einigem von Wagner und vor, dann also immer wieder aus einem unsterblichen Ladenhüter aus der Lucia di Lammermoor wegen ihres berühmten Sextetts, die bei uns also gar nicht dazu auch gehört.

[1:29:15]

Das hängt nun sicher damit zusammen, dass unter den besonderen Bedingungen des Stagionetheaters über- haupt der Erwerb eines neuen Werkes im Rahmen die- ses Systems bereits mit ungeheuren Schwierigkeiten verbunden ist. Es spielt aber dann bei diesem Reper- toireschwund noch so eine eigentümliche, wie soll man sagen, Akkumulationsproblematik mit, dass nämlich die Favoritenopern natürlich am meisten gehört werden, und es gehört zu den Zügen des Opernpublikums, die man in einer Analyse des Opernpublikums einmal herausarbeiten möchte, dass die Opernhörer in einer, ja, verzeihen Sie, infantilen Weise immer wieder so nach derselben Speise verlangen. Also dass eine Oper gefällt, dazu gehört schon beinahe dazu, dass man sie auswendig kann, so wie vorhin von der Butterfly gesagt worden ist, dass das eh jeder schon so gut kennt, dass es ganz gleich ist, ob man‘s auf Deutsch oder Italienisch oder meinetwegen auf Japanisch singt. Also wenn etwa eine Reihe von selbst im konventionellen Sinn ungeheuer einfallsreiche Opern von Meyerbeer heute nicht mehr ankommen wie etwa Die Afrikanerin, die wirklich also, ich meine, nach Verdi‘schen Maßstäben sicher un- endlich einfallsreich ist oder auch die Hugenotten oder der Prophet, dann hängt das einfach damit zusammen, dass durch diesen bereits vollzogenen Selektionsme- chanismus die Leute das einfa... das nicht so wieder- kennen, wie sie die »Holde Aida « wiederkennen, und weil sie den narzisstischen Lustgewinn, dass sie selber sozusagen stolz darauf sind... »Ah, das ist die ‚Holde Aida‘ «, weil sie den also nicht haben, deshalb gefallt‘s ihnen nicht so gut. Also ich würde sagen, diese Momen- te muss man auch berücksichtigen, aber ich würde doch denken, das wirksamste Mittel dem Repertoireschwund entgegen zu arbeiten, wäre, das Wort liegt ja sehr nahe, ein Repertoiretheater, das unter anderm auch, wie Herr Liebermann vorhin angedeutet hat, diese Funktion der Wiederholung, die schon zum Verständnis mit dazugehört, so planvoll und so konsequent durchführt, das also dieses Selektive »Kenn ich nicht, also schmeckt mir’s nicht «, dass dieses Moment dabei wegfällt.

LIEBERMANN
Ja, man muss aber eines natürlich dazu sagen: Dass sich die »Holde Aida « gehalten hat, ist ja kein Wunder, ist ja ein gutes Stück! [zustimmendes Lachen]

ADORNO
Ich will gar nichts gegen die »Holde Aida « ...

[Applaus]

LIEBERMANN
Während ich glaube, wir haben also einen Versuch gemacht mit Hugenotten, und ich habe einfach den Ein- druck, dass das wirklich nicht mehr geht, weil es nie-

manden mehr interessiert, weder die Machart, die musikalische, noch was da passiert. Und ich glaube einfach, dass man ein Stück, das eigentlich nur von »Eine feste Burg ist unser Gott « lebt, das genügt einfach nicht für ‚nen ganzen Abend. Also ich glaube an diese Wiedererweckung nicht, aber ...

ADORNO
Also in der Afrikanerin, würde ich sagen, gibt es, gibt es Stücke, wie die berühmte Vasco-Arie, die also an rein melodischer Qualität, wenn man einmal schon eine so barbarische Kategorie gebrauchen will, hinter der »Holden Aida « gar nicht zurücksteht.

LIEBERMANN Ja. Kenn ich nicht.

[Pause, Murmeln] [1:32:50]

FICHTNER
Meine Damen und Herren, ich möchte jetzt niemanden, der hier vielleicht noch etwas sagen möchte, das Wort nicht erteilen, aber wenn‘s Ihnen recht ist, machen wir jetzt einen vorläufigen Punkt.

KARL LÖBL [ZUSCHAUER]
Ich glaube, dass bei der jetzigen Diskussion zum mo- mentanen Zeitpunkt das Thema in fatalster Weise ver- fehlt wurde [zustimmende Rufe, langer Applaus] Es ist nämlich hier immer gleichgestellt worden der Begriff des Stagionetheaters mit dem Begriff des Startheaters, wobei ich der Meinung bin, dass die beiden überhaupt nichts zu tun haben. Denn das Stagionetheater ist eine zeitlich begrenzte Zusammenfassung von Künstlern, seien es Sänger, Regisseure und Dirigent, die keineswegs Stars sein müssen, während das Startheater auch durchaus in einem Ensembletheater möglich ist, wenn das nämlich Stars zu seinem Ensemble zählt. Ich sehe daher überhaupt nicht ein, warum die Stagione etwas so Minderwertiges sein soll, die nur Stars beschäftigt. Ich möchte darauf verweisen, dass die Mailänder Scala in dieser Saison in der fatalen Situation ist, keine Stars beschäftigen zu können, weil sie die Gagen nicht zahlen kann, und sie macht eine reine Stagione wie bisher. Und ich habe zum Beispiel gehört von Herrn Professor Ador- no, dass in der Stagione immer wieder dieselben Stücke wiederkehren, ich möchte darauf verweisen....

ADORNO
In Amerika. Ich sprach von Amerika, ich wollte da nicht über die Scala reden.

KARL LÖBL [ZUSCHAUER]

Aha. Denn ich hätte zum Beispiel jetzt gerne darauf ver- wiesen, dass die Mailänder Scala in dieser Saison...

ADORNO Eben.

KARL LÖBL [ZUSCHAUER]
....in dieser Saison den Amfiparnasso von Orazio Vecchi...

ADORNO
... von Orazio Vecchi.

KARL LÖBL [ZUSCHAUER]

... oder Olimpia von Spontini, also Stücke, die keines- wegs in das Schema das wir uns sonst von der bösen Stagione machen, hineinpasst.

ADORNO
Ja, das ist mir bekannt.

NICHT IDENTIFIZIERTER SPRECHER AUF DEM PODIUM
Schwefelminen... [Richard Rodney Bennett: The Mines of Sulphur war 65/66 auf dem Programm der Scala]

KARL LÖBL [ZUSCHAUER]
Aber ich glaube, dass man vielleicht von Herrn Inten- dant Liebermann, den ich wegen seiner frischen Ausdrucksweise seit Jahren sehr schätze [Gelächter], ein offenes Wort hören kann, dass es auch in der vielgepriesenen deutschen Ensemblepolitik nicht immer ganz so weit her ist; Herr Intendant Liebermann, Sie hatten einen ziemlich großen Erfolg zu Anfang dieser Saison mit Jacobowsky und der Oberst. Sie haben die Hauptrolle dieses Stücks nicht mit einem Herren ihres Ensembles be- setzt, sondern unserem Oscar Czerwenka. Jetzt möchte ich also fragen, was ist das anderes als eine modifizierte Form der Stagione. Sie könne ja Jacobowsky und der Oberst nur spielen, wenn Sie den Herrn Czerwenka ha- ben. Das heißt, Sie müssen sich in der Ansetzung ihrer Vorstellungen nach den übrigen Verpflichtungen des Herrn Czerwenka richten. Das ist für mich Stagione. Eine Stagione ist über die ganze Saison...

[Applaus]

NICHT IDENTIFIZIERTER SPRECHER VOM PODI- UM
Moment, Moment.

KARL LÖBL [ZUSCHAUER]
Eine Stagione ist über die ganze Saison verteilt, es ist nicht so, dass Sie Jacobowsky und der Oberst innerhalb von drei Wochen abspielen und dann wegschmeißen.

Aber die Besetzung muss beisammenbleiben. Und wenn zum Beispiel Herr Günther Renner in Wien jetzt Così fan tutte und Der Barbier von Sevilla gemacht hat und sich vertraglich ausbedungen hat, dass diese Besetzung nicht verändert werden darf, so ist das ein Stagionetheater, über mehrere Spielzeiten verteilt. Und deshalb möchte ich sagen die Veranstaltung sollte nicht heißen: Ensembleoper oder Stagione, sondern Ensembleoper als Stagione.

[Applaus, Gemurmel auf dem Podium] [1:36:22]

LIEBERMANN
Ja nur, weil ich angesprochen worden bin. Ich bin mit Ihnen völlig einverstanden, das ist ja eine reine Formulierungsfrage, was ist Stagione, wie haben ja am Anfang versucht, terminologisch zu klären ...

FIECHTNER
Der erste Satz war, dass wir von der modifizierten Sta- gione und von der modifizierten... vom modifizierten Ensembletheater sprechen, ich mein, darüber sind wir uns im Klaren...

LIEBERMANN
Das was ich unter Repertoiretheater, also was ich für unter Ensemble jetzt verstehe in Ihrem Beispiel ist, dass ich Jacobowsky nicht spiele ohne Herrn Czerwenka mit einer fünftklassigen Besetzung, sondern dieses Stück 7,8 mal im Jahr, mit Herrn Czerwenka in der Premierenbesetzung, aber für die nächsten vier Jahre spiele.

KARL LÖBL [ZUSCHAUER] [Unverständlich]

LIEBERMANN:
Bitteschön, sofort einverstanden.

[Pause, Gemurmel] [1:37:06]

ADORNO
Ja, also wenn uns vorgeworfen worden ist, wir hätten sozusagen an der Sache vorbeidiskutiert, so möchte ich doch sagen: Ich glaube kaum, dass unter uns Diskutierenden, die hier an diesem Tisch sitzen, irgendeiner ist, der nicht von ... davon überzeugt ist, und ich glaube ich habe das auch gesagt, nachdem sie mich angezogen ha- ben, der nicht davon überzeugt ist, dass das Repertoiretheater in seiner provinziellen Gestalt genauso unter der Problematik der Opernform heute zu leiden hat, wie das Stagionetheater auch. Wenn Sie sagen, sie gehen in die

Oper, um Stimmen zu hören, dann halte ich das, und ich möchte das ohne dabei die Stimme im mindesten zu unterschätzen, und ich möchte annehmen, ich möchte mich dabei gerade auch auf Herrn Kammersänger Hotter berufen, der mir wahrscheinlich zustimmen wird: Ich bin der Ansicht, dass die Stimme in der Oper, wenn die Oper ein Kunstwerk ist, ein Instrument ist und nicht Selbstzweck und ich halte den Kult der Stimme...

[Applaus]

Ich halte den Kult der Stimme um ihrer selbst willen ja also für einen im Grunde kulinarisches, also für ein Verhältnis, wie man‘ s zu gutem Essen hat, was etwas sehr Schätzbares sein mag, aber was diesseits überhaupt der Idee der Kunst liegt, und ich würde sagen, dass genau das Moment der Kunstfremdheit, das man also immer wieder der Oper gegenüber konstatieren kann, genau mit diesem, wie soll man sagen, Stimm-Materialismus zusammenhängt, der also zu der Erfahrung dessen, was ein in sich ein... konsequent durchgeformtes und arti- kuliertes Kunstwerk ist, noch nicht gelangt ist. Damit meine ich in gar keiner Weise, dass nicht die Stimme ein sehr wesentliches Element als Träger der musikalischen Kraft eines lebendigen Menschen zu sein hat, aber die Stimme abgelöst von der musikalischen Zweck ist heute ein Fetisch und ich würde sagen, es gehört also zu den wichtigsten Aufgaben einer musi- kalischen Erziehung, dass man darüber hinaus kommt, und dass man lernt, dass man auf der Stimme sozusagen genauso spielen kann, und die Stimme genauso als ein Ausdrucksmittel benutzen kann wie jedes andere Instrument auch, mit der Einschränkung natürlich, das versteht sich von selbst, dass etwas was mit einem lebenden Menschen unmittelbar zusammenhängt, natürlich nicht so von ihm abgelöst werden kann wie eine Geige oder ein Klavier. Aber ich glaube doch, dass genau dieses vorkünstlerische und ich würde also fast sagen: kunstfeindliche Element, das in dem vorherr- schenden Verhältnis zur Oper steckt, genau mit diesen Dingen zusammenhängt.

HOTTER
Und glauben Sie nicht, verzeihen Sie: Glauben Sie nicht auch an einen Kult der Regisseure, Kapellmeister und Bühnenbildner? [heitere Kommentare aus dem Publikum]

ADORNO
Ja, also, dieser Kult der Regisseure... Der Kapellmeister sicher...Ganz sicher, der Regisseure...

HOTTER
Ich hab sie gleichmäßig gemeint.

ADORNO
Der Kapellmeister... Der Regisseure würde ich sagen: das ist ein anderer Komplex. Also das in der ...

HOTTER
Aber es ist auch ein Kult.

ADORNO
Es ist aber in der Breite des Publikums glaube ich nicht, dass ein Kult der Regisseure so herrscht wie ein Kult der schönen Stimmen. Der steht an erster Stelle, und dann kommt wohl ...

HOTTER
Wobei in der der Stimme das ausübende Element mit dem Kapellmeister zusammen ist am Abend.

[1:41:00]

THALHAMMER
Und glauben Sie Herr Professor nicht auch [ »Lauter! «]... glauben Sie nicht auch, Herr Professor, dass es nicht allein die Qualität des Instruments ist, sondern auch die künstlerische, die persönliche Ausstrahlung ihres Trägers, wenn wir vom Sänger sprechen?

[Applaus]

HOTTER Danke.

ADORNO
Ja, dazu möchte ich hier ganz einfach sagen, sozusagen geschäftsordnungsmäßig, Herr Ministerialrat, vorhin ist ja von Stimmen gesprochen worden. Im Augen... und die Stimme also in einem gewissen Sinn isoliert worden. Dass also es Künstler gibt, wie Caruso sicher einer war, bei dem die Stimme mit einer ungeheuren Ausdruckskraft und persönlichen Ausstrahlung verbunden war, ist gar kein Zweifel, ob das, also bei all den Menschen oder den paar Menschen, die heute gerade um ihrer Stimme willen so gefeiert werden, ebenfalls so ist, daran habe ich also meine Zweifel.

[vereinzelter Applaus]

[1:41:49]

FIECHTNER
Bitte, meine Damen und Herren, wie weit, was wir hier diskutiert haben von Interesse war oder nicht, verfehlt oder gelungen, lag uns der Effekt nicht so sehr am Herzen. Wir haben uns heute Vormittag zum ersten Mal gesehen, Herr Intendant Liebermann ist erst heut‘ Nach- mittag zu uns gestoßen, und wir wollten Ihnen einige Gedanken zur Situation der Oper in der heutigen Zeit anhand eines Themas mitteilen, das man vielleicht wei- ter hätte formulieren können, das wir aber für gut be- funden haben, an etwas anzubinden. Und Ihnen danken wir für Ihre Aufmerksamkeit.

Transkription Ann-Christine Mecke