Cookie-Einstellungen

Dieses Tool hilft Ihnen bei der Auswahl und Deaktivierung verschiedener Tags / Tracker / Analysetools, die auf dieser Website verwendet werden.

Essentiell

Funktional

Marketing

Statistik

Pas de deux UND ZWEIKAMPF

Christine Mielitz hat den Fliegenden Holländer 2003 an der Wiener Staatsoper inszeniert. Nachdem ich auf einer DVD ihren beeindruckend klugen, präzise durchgearbeiteten Dresdner Lohengrin (aus dem Jahr 1983!) kennengelernt habe, bin ich auf diese Arbeit der bedeutenden Regisseurin besonders gespannt. Meine Recherche beginnt mit einer Enttäuschung: In der hausinternen Mediathek gerate ich an das völlig konzeptlose Streaming einer Aufführung ihrer Inszenierung aus dem Jahre 2012. Der Bildregie gelingt es nicht im Ansatz, das Koordinatensystem der Inszenierung visuell aufzuschlüsseln und nachvollziehbar zu machen. Auf einer Bühne interagiert der gesamte Körper des Darstellers mit seinen Partnern in einem von Raum, Objekten und Licht markierten Spannungsfeld, und erst in diesen Beziehungen findet sein Spiel seinen Sinn. Doch die Kamera des Streamings interessiert sich nicht dafür, warum eine Figur sich so verhält, wie sie sich verhält, und was ihren Gesang szenisch motiviert und konkretisiert, sondern ein Sänger kommt ins Bild, einfach »weil er gerade dran ist«. Was von der Inszenierung übrig bleibt ist gnadenlos wenig.

Rettung bringen die beiden Premierenmitschnitte. Ich beginne mit einer Aufzeichnung der Kameratotalen in Schwarzweiß. Das Bild ist grob gerastert, in die Tonspur mischt sich immer wieder der Funkverkehr der Inspizienten. Dennoch bin ich vom ersten Moment angepackt. Man spürt eine ungeheure kollektive mentale und physische Energie, die sich dann vor allem auch in kraftvoll gesetzten und szenisch individuell beglaubigten und durchartikulierten Chorauftritten entlädt. Neben den choreographischen Qualitäten der Chorführung verstärkt das Schwarzweiß der Totale das »expressionistische Moment« der Ästhetik, indem es die Kontraste der suggestiven Lichtregie noch erhöht und offenbart, wie genau sie auf die musikalische und dramaturgische Struktur abgestimmt ist. Die häufigen, auch abrupten Beleuchtungswechsel korrespondieren als optische Schnitte mit den zahlreichen Brüchen und Unterbrüchen der Partitur.

Ein transparenter Spielvorhang zeigt die Silhouette einer einsamen verhüllten Figur, die mit ausgebreiteten Armen auf einem vorgeschobenen Felsplateau über einem wogenden Meer steht. Die Darstellung erinnert an die Bildwelten des Illustrators Gustave Doré, des Schöpfers zahlreicher Ikonen der Seenot mit Höllenmeeren aus Feuer und Eis oder festgefrorenen Karavellen unter sphärischen Lichtbögen und schwebenden Albatrossen. Im weiteren Verlauf zitiert auch der Rückprospekt diesen Künstler mit Felsformationen, Meeresdarstellungen und Fregatten.

Nach Hochfahren des Spielvorhangs zeichnen sich auf der Bühne die Balken eines gewaltigen Schiffsrumpfes ab, zwischen denen Dalands Matrosen den Bug ihres Schiffes vertäuen. Das Lied des Steuermanns, mit dem er gegen die Müdigkeit anzusingen versucht, wird hochmusikalisch ausagiert, körperlich und konkret zugleich. Nachdem er außerhalb der Balkenkonstruktion zusammengesunken ist, erscheinen nach Aufleuchten eines Lichtblitzes der Holländer und seine Mannschaft: Hierfür wird die aus Planken gefügte Rampe, die über die Schiffsrippen hinweg in die Bühnentiefe führt, von unten suggestiv durchleuchtet. Die von Wagner nur akustisch gedachte kollektive Aura des Holländer-Monologs – aus dem Schiffsraum dringende Stimmen der Mannschaft, die seinen letzten Satz »Ew’ge Vernichtung nimm uns auf!« wiederholen – wird bei Christine Mielitz zu einer auch visuellen Aura. Bereits die schwankenden Schritte beim ersten Landgang nach siebenjähriger Irrfahrt unternimmt der Holländer an der Seite und als Teil der gesamten Besatzung. Schön ist es, wie mit Verklingen des erwähnten sphärischen Choreinsatzes das Licht den schlafenden Steuermann aus der Dunkelheit hebt, in den der Rest der Bühne nun getaucht ist.
 

Die folgende Kontaktaufnahme Dalands und seines Steuermanns mit dem fremden Kapitän kann zunächst nur durch Zuruf erfolgen. Erst mit der tieftraurigen Phrase der Bratschen und Celli, die sich an die Replik »Mein Schiff ist fest, es leidet keinen Schaden!« anschließt und die man als »Motiv der Hoffnungslosigkeit des Holländers« bezeichnet hat, gleitet der Holländer auf dem Bug seines Schiffes geisterhaft herein – ein Nosferatu der sieben Weltmeere. Und noch mehr der spukhaften Momente ereignen sich im folgenden Handel der beiden Kapitäne. »Die seltensten der Schätze sollst du sehen!« verspricht der Holländer, als bereits Goldbarren von schwarz behandschuhten Händen aus der Bühnentiefe zu Dalands Füssen gehoben werden. Dalands Befremden vor der rätselhaften Erscheinung wächst. Gänzlich unbegreiflich will ihm die Wunscherfüllung scheinen, die diese Begegnung ermöglicht (»Wie? Hör ich recht? Meine Tochter sein Weib!«). Der Zusammenbruch des flehenden Fremden, der ihn zur Annahme des Bundes zu nötigen versucht, ist verstörend: »Oh, so nimm meine Schätze dahin!« Der finale Handschlag, der das Eheversprechen besiegelt, hat das Gewicht eines Teufelspakts.

Mit dem Übergang zum 2. Bild muss ich aufgrund der helleren Lichtstimmungen, die das Videobild permanent überblenden, in den Farbmitschnitt des Premierenabends wechseln. Die Bühne hat sich verwandelt: Das Schiffsgerippe wirkt nun wie das Exponat eines kulturhistorischen Museumssaals, dessen mit Seidentapeten verkleidete Wände an ein großbürgerliches Interieur erinnern. Gleichzeitig trägt auch dieser Raum Züge einer Arche: durch die runden, Bullaugen ähnlichen Durchblicke in den Türen sowie auch durch das Gewölbe, das die Rückwand überragt, und in dem sich wie in einem Lagerraum zahlreiche Vogelkäfige stapeln. Zwischen diesem Hochgeschoss und dem oberen Rahmen der Doppeltür, die den Raum nach hinten zu abschließt, befindet sich eine von vier historischen Porträtfotografen bärtiger Männer gebildete Bilderzeile. In einem von ihnen meine ich Ernesto »Che« Guevara zu erkennen, was sich im Gespräch mit den Kollegen als Irrtum herausstellt – und dennoch lag ich nicht ganz falsch: Es handelt sich um vier Revolutionäre, die – anders als der Dichterkomponist – der Revolution die Treue hielten und denen die Flucht vor der Verhaftung nicht gelang. Diese Idee einer gescheiterten Revolution hat die Regisseurin offenbar mit der blutroten Farbe des Holländersegels assoziiert, und ihrer Idee ist Senta die Treue zu halten entschlossen.

Erik, der Senta liebende Jäger: Ein von der Dorfgesellschaft geschnittener und immer wieder gedemütigter Außenseiter. Dass Senta seine Zuneigung erwidert, kann nicht überraschen: Gerade, dass Erik aufgrund seines »dürftig Guts«, seiner Besitzlosigkeit also, für ihren Vater kein konkurrenzfähiger Freier ist, dürfte ihrem Nonkonformismus, der sich dem Wunsch des Vaters nur dann beugt, wenn er dem eigenen entspricht, entgegenkommen. Zugleich aber könnte Erik die Projektionsfläche ihres Holländerbildes niemals ausfüllen. Seine Not macht ihn zu einem Getriebenen, der der verlorenen Nähe zu Senta hinterherzujagen versucht, die freilich schon vor der Begegnung mit dem Holländer wie auf der Flucht aus diesem Leben erscheint. Wie Christine Mielitz diese und die folgenden Szenen in darstellerische Höchstspannung versetzt, ist atemberaubend. Das Spiel am Premierenabend wirkt von Moment zu Moment unvorhersehbar, das Agieren geschieht aus dem Moment heraus, jeder Moment ausbrechend aus dem Moment davor. Voneinander angezogen und auseinandergetrieben zugleich, prallen in Sentas und Eriks Auseinandersetzung Aggression und innigste Liebe aufeinander, in einem Pas de deux, der zugleich ein Zweikampf ist. Dass und wie Senta sich an Erik anlehnt, wenn sie den Schmerz des andern, des imaginären Rivalen besingt, macht den emotionalen Doublebind, mit dem sie den Zurückgewiesenen an sich kettet, auch für uns beinahe unerträglich: »Fühlst du den Schmerz, den tiefen Gram, mit dem herab auf mich er sieht?«

Auf der gleichen inszenatorischen Höhe dann Sentas Konfrontation mit dem Holländer, die in zwei parallel gesungenen Monologen stattfindet. Wie Mielitz es versteht, in diesem Duett, dass keines ist, die Distanz zwischen den Darstellern maximal auszureizen und aufzuladen, ist grandios. Wir verfolgen das Sich-An- und Umschleichen der beiden, ganz am Ende eine vorsichtige Berührung, der sich der Holländer gleich wieder entzieht. Immer mehr gerät Senta in den Sog des roten Lichtes, das zunächst von unten durch die Fugen dringt, um dann die Rückwand zu skelettieren und völlig zu durchleuchten. Sentas Gestalt erstrahlt in diesem Licht. Dass der Holländer selbst ihrem und seinem Ideal nicht mehr entspricht, bleibt ihr nicht verborgen. Brutal muss sie sich von ihm im Genick packen lassen. Und so ist ihr Treueversprechen wie eine Herausforderung, fast als Drohung gesungen: »Hier meine Hand! Und ohne Reu’ bis in den Tod gelob’ ich Treu!«

Das rote Licht skandiert dann auch den gewaltsamen Einbruch der Mannschaft des Holländers in das Fest der Seeleute. Nach diesem Pandämonium, bei dem die Normalsterblichen die Flucht ergriffen haben, bleiben die Körper der Zombies entseelt auf der Bühne liegen, um sich erst beim Pfiff ihres Kapitäns wieder zu beleben: »Segel auf! Anker los!« Dazwischen wird Senta von dem sie verfolgenden Erik gestellt, der sie an das ihm gegebene Treuversprechen erinnert. Sentas Zusammensacken bei »Leugnest du?« ist fast ein Eingeständnis – und der Holländer ist Zeuge. Verzweifelt hält Elsa beide Männer umarmt, den armen Jäger und den vermögenden Weltumsegler, und wird keinen der beiden halten können.

→ Christine Mielitz wurde in Chemnitz geboren. Ihr Vater, Geiger und Konzertmeister bei der Staatskapelle Dresden, führte sie früh an das Musiktheater heran. Mielitz studierte Opernregie in Ost-Berlin bei Götz Friedrich und Hans-Jochen Irmer. 1973 war sie Assistentin von Harry Kupfer an der Staatsoper Dresden. 1980 entstanden ihre ersten eigenen Inszenierungen, 1985 wurde sie Oberspielleiterin an der Dresdner Semperoper, 1992 Oberspielleiterin an der Komischen Oper Berlin. Christine Mielitz war von 1998 bis Mai 2002 Intendantin des Südthüringischen Staatstheaters Meiningen und erweckte dort u.a. mit der Aufführung von Wagners Ring des Nibelungen in einem Bühnenbild von Alfred Hrdlicka an vier aufeinander folgenden Tagen große Aufmerksamkeit. Danach wechselte sie in gleicher Funktion an die Oper Dortmund (bis 2010). Parallel zu

ihren Intendanzen inszenierte sie auch international an großen Häusern und Festivals. Als ihr größter künstlerischer Erfolg in Wien gilt die Staatsopern-Inszenierung von Benjamin Brittens Peter Grimes aus dem Jahr 1996, die in dieser Saison ebenfalls wiederaufgenommen wird. Die Volksoper eröffnete ihre Jubiläumssaison 1998 mit einer höchst erfolgreichen Meistersinger-Inszenierung von Mielitz. Mielitz war u. a. auch beim Wiener »Klangbogen«-Festival 2001 mit Verdis Luisa Miller im Theater an der Wien vertreten.


WIEDERAUFNAHME
DER FLIEGENDE HOLLÄNDER
17. (Wiederaufnahme), 21., 24., 28. November, 2. Dezember 2021

Musikalische Leitung Bertrand de Billy
Inszenierung Christine Mielitz
Bühne & Kostüme Stefan Mayer
Dramaturgie Eva Walch

Der Holländer Bryn Terfel
Senta Anja Kampe
Daland Franz-Josef Selig
Erik Eric Cutler
Mary Noa Beinart
Steuermann Josh Lovell