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© Lukas Gansterer / BÜHNE
© Lukas Gansterer / BÜHNE

Musik als Lebenstherapie

Karten & Informationen »L'Orfeo«
 

Wenn wir Orfeo mit der im letzten Jahr gespielten Lʼincoronazione di Poppea vergleichen: Wo liegen zwischen Monteverdis frühem und dem späteren Stück die musikalischen Unterschiede?
KATE LINDSEY Ich empfinde bei Poppea eine größere Einlassung auf ein Risiko, bei Orfeo hingegen spürt man noch den behutsamen Schritt Monteverdis in Richtung Theater. Interessant ist jedenfalls, dass man zwischen diesen beiden Werken das Weiterschreiten der Zeit erkennen kann und eine Zunahme der Akzeptanz der Theatralität der Musik.
CHRISTINA BOCK Der Unterschied liegt durchaus auch in der Struktur: Poppea ist eine Ensembleoper, in Orfeo hingegen gibt es die Titelfigur als zentralen Charakter, um den sich alles dreht. Wir anderen gruppieren uns rund um ihn und bringen zusätzliche Farben in die Geschichte ein.
SLÁVKA ZÁMEČNÍKOVÁ Rein vom Gesanglichen her nehme ich keinen Unterschied wahr. Beides stammt spürbar aus einer Feder. Was mich aber bei beiden Opern fasziniert, ist die musikalische Intelligenz, mit der Monteverdi die Opern geschrieben hat und die uns Sängerinnen und Sängern hilft: Wenn man singt, ist es wie sprechen. Eine ganz natürliche Form, ganz ohne jede Künstlichkeit. Selbst wenn man viel zu singen hat, geschieht es ohne jegliche Anstrengung. Vielleicht ist man am Ende eines Abends körperlich müde, weil die Oper lang ist, rein vom Gesanglichen her ist es aber kein Problem.
GEORG NIGL Ganz allgemein muss man aber zunächst die Frage stellen, woher die abendländische Musik kommt. Wenn wir Koloraturen bei Monteverdi entdecken, dann sollten wir nicht an Rossini oder Bellini denken, sondern an den Raum des Mittelmeers, zum Beispiel an den jüdischen Kantorengesang oder an einen Muezzin. Wir haben in den letzten 400 Jahren unglaublich eingeengt, was wir unter »richtigem« und »schönem« Singen verstehen. Auch das Hörbild, das wir heute haben, ist stark geprägt durch die Einspielungen des 20./21. Jahrhunderts. Im Falle der frühen Oper darf man aber nicht vergessen, dass in Mantua anders musiziert wurde als in Venedig und vor allem in Rom. Es war alles nicht so eindeutig festgelegt, wie wir es heute kennen. In Wahrheit gibt es wahnsinnig viele Möglichkeiten des musikalischen Ausdrucks und nicht nur einen »richtigen« Weg.

Orfeo steht am Beginn der Operngeschichte. Ist das Experimentelle in dieser sehr frühen Oper zu spüren?
CB Ich finde, man merkt bei Orfeo nicht, wie neu die Gattung »Oper« ist und dass vieles noch im Bereich des Experiments war. Es ist einfach ein wunderbar dramatischer Zugang zu einem Stoff, und es ist eine Musik, die genau auf den Text hört. Alles ist stark und in sich stimmig.
GN Monteverdi hat ja nicht alles neu erfunden. Es hat zu seiner Zeit Musik für den Krieg, Kirchenmusik, Tanzmusik gegeben. Aus diesen Elementen hat er sich genommen, was er brauchte, um daraus ein geschlossenes Drama zu bauen. Besonders war aber die unglaubliche Qualität, die er damit bot. Die Kirchenmusik von Monteverdi erklimmt Höhen wie jene von Johann Sebastian Bach. Sein Musiktheater steht jenem von Mozart oder Wagner um nichts nach und ist absolut auf gleichem Niveau. Und: Wir bewundern Wagner für Gedanken zur Einheit von Text und Musik: das hat Monteverdi schon um 1600 gemacht. Ich habe das Gefühl, dass sein Werk viel viel fortschrittlicher und klüger ist, als wir oftmals denken.

Auch wenn wir vieles über diesen frühen Orfeo – Uraufführung 1607 – wissen, vieles bleibt im Unscharfen. Ergeben sich dadurch für die Interpretierenden mehr Freiheiten?
KL Ich denke, dass man – in allen Bereichen – mehr Freiheiten hat. Nicht nur, was uns Sängerinnen und Sänger betrifft, sondern auch die Inszenierung. Wir greifen hier ja auf eine sehr poetische Sprache zu, und diese Poesie gibt uns allen die Möglichkeit zu fragen, was diese Worte, diese Musik für uns heute bedeuten. Es ist ungemein spannend zu sehen, wie ein 400 Jahre altes Stück auch noch heute zu uns sprechen kann.
GN Die Herausforderung ist, dass wir heute alle so ungemein spezialisiert sind. Wagner war Komponist, Dirigent, Pianist, Dichter. Wer kann das heute noch alles gleichzeitig? Viele Sänger in Monteverdis Zeit waren auch Komponisten. Ich bin »nur« Sänger, kann also der Musik Monteverdis nur mit meiner Erfahrung und dem, was ich gelernt habe, begegnen. Meine Freiheit besteht auch darin, dass ich nicht besser weiß, ob Monteverdi es sich so vorgestellt hat oder nicht. Das betrifft aber auch Wagner, Verdi und Mozart. Wie es genau gewollt war, das können wir heute nicht mehr wissen. Wobei: In der Arbeit mit zeitgenössischen Komponistinnen und Komponisten machte ich die Erfahrung, dass sie uns Interpreten viel Freiraum geben. Wenn ich mit Wolfgang Rihm telefoniere und ihn frage: »Ist diese Stelle so möglich?«, sagt er: »Mach es für dich möglich«.

Eines der zentralen, allgemein bekannten Themen dieser Oper ist die Macht der Musik. Wie allmächtig ist sie denn wirklich?
KL Was Tom Morris in seiner Inszenierung zeigt, ist, dass alle Wesen im Hades, in dieser Hölle, stets wiederkehrende Qualen erleiden. Sisyphos muss den Stein immer wieder den Berg hinaufbefördern, doch dieser rollt stets wieder in die Tiefe, und so weiter. Diese Wiederholungen sind auch für uns alle die Hölle. Doch dann, beim Erklingen der Musik Orfeos halten alle an. Das ist die Macht der Musik! Ich denke, dass viele Menschen ins Theater kommen, um sich zu befreien und von den ewigen Wiederholungen ihres Lebens wegzukommen, um an einen anderen Ort zu gelangen.
SZ Ich werde ja oft gefragt, was mir persönlich Musik bedeutet. Und ich antworte stets: Stellt euch einen Film ohne Musik vor! Musik drückt nicht nur Emotionen aus, sie erzeugt Gefühle, hat ihre direkte Wirkung auf uns Menschen. Und um diesen Effekt weiß man seit Jahrhunderten, und seit Jahrhunderten wird er auch von Komponistinnen und Komponisten eingesetzt. Musik macht einfach etwas mit uns – und aus diesem Grund singen und bewegen wir uns ganz natürlich zu ihr.
CB Ich habe eine kleine Tochter und erlebe tagtäglich, wie sehr sich Musik ganz einfach, ohne Erklärung, vermittelt. Wir alle kommen in der Opernwelt so schnell ins Erklären, es gibt solche Vorgaben wie: »Das muss man wissen, um jenes zu verstehen«. Wie natürlich Musik aber in Wahrheit ist, wie natürlich es ist, sich zu einem Rhythmus zu bewegen: das verlernen wir leider oftmals. Kinder können das noch, auch dieses Vor-sich-Hinsingen. Dieses Universelle. Es klingt so banal, aber Musik ist einfach eine universelle Sprache.
GN Die Musik wird in Orfeo mit der Liebe gleichgestellt. Also dem Höchsten, das wir kennen. Dem Besondersten. Ich singe seit den 1970er Jahren – und ich denke, diese intensive Beschäftigung mit der Musik hat viel mit Liebe zu tun. Daher kann ich auch verstehen, warum Monteverdi und sein Librettist Striggio sich dieses Mythos angenommen haben. Was ganz wichtig ist: Durch die Überhöhung bekommt das Werk etwas Zeitloses. Darum sind die Mythen ja auch so interessant, weil sie außerhalb von Zeit und Raum stehen und die großen Fragen unseres Lebens verhandeln: die Liebe und den Tod.
KL Um es ins Persönliche zu bringen: Musik ist für mich eine Art Erlösung, eine Erholung von allem anderen im Leben. Ich stelle immer wieder fest, dass ich mich leichter fühle, wenn ich Zeit mit Singen, und selbst wenn es nur Üben ist, verbracht habe. Es ist wie eine Physiotherapie für meinen Körper und meinen Geist. Ich werde nie vergessen, wie ich vor einem Jahr, als es nach Corona wieder möglich war, im Musikverein saß: Es war so bewegend, einem Orchester zuzuhören, gemeinsam mit anderen Menschen in einem Saal zu sitzen und diese Erfahrung zu teilen. Ich hatte das Gefühl, dass die Zeit stehen bleibt und alle Ablenkungen verschwinden. Kein Handy, nichts.

Geht es dabei um Sie? Oder wollen Sie für andere auch die Zeit anhalten?
SZ Ich hatte eine Phase in meinem Leben, da dachte ich, dass ich vielleicht schön singe, aber nichts Gutes für Menschen leiste. Aber wenn man die Sache von der anderen Seite betrachtet, dann machen wir genau das! Menschen kommen ins Theater, um etwas zu erleben, was sie nicht jeden Tag haben können. Sie kommen ins Theater, um Gefühle zu spüren. Um sich zu öffnen. Das Schönste für mich ist, wenn nach einer Vorstellung jemand zu mir kommt und sagt: »Ich habe so etwas Herrliches empfunden, ich hatte ein solch erfüllendes Erlebnis. Und Sie haben geholfen, dieses oder jenes zu fühlen – und zu verstehen«. Da merkt man stets aufs Neue, wie die Musik direkt auf das Gefühlsleben von Menschen zugreift und uns alle im Innersten berührt.
CB Wenn ich privat Konzerte veranstalte, dann sind es zumeist moderierte Abende, weil ich es so spannend finde, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Und immer wieder bin ich erstaunt, was da alles rüberkommt und was wir alles mit der Musik bewirken können. Und wie direkt Musik wirkt. Gerade Monteverdi ist da ein gutes Beispiel: Wenn man sich diese Musik anhört, dann kann man die Füße fast nicht stillhalten. Dazu braucht es keine Anleitung, es zieht einfach jede und jeden rein. Ganz egal, ob man damit groß geworden ist oder nicht. Einfach ein Grundbedürfnis.
KL Es geht definitiv auch um die anderen. Mein Ziel ist es stets, so ehrlich wie möglich zu sein und meine Stimme so ehrlich wie möglich einzusetzen. So, dass sie die Fähigkeit hat, Menschen zu erreichen. Ich denke also nicht daran, den perfekten Klang zu erzielen, sondern den menschlichsten, ehrlichsten Klang für den jeweiligen Augenblick. Ja, ich sehe es sogar als meine Aufgabe, so offen und verletzlich wie nur möglich zu sein, damit das, was ich anbiete, sich wahrhaftig anfühlt und so direkt die Menschen erreicht und anspricht. 

Eine final besungene Aussage der Oper ist der per aspera ad astra-Gedanke. Also: Wer durch ein hartes Schicksal, durch Leid geht, wird zuletzt besonders belohnt.
GN Ich finde die ursprüngliche Idee, dass Orfeo von den Mänaden zerrissen wird, schlüssiger. Mit dieser Deus-ex-machina-Lösung habe ich meine Probleme. Andererseits: Dass es die Hoffnung gibt, im totalen Scheitern Erbarmen zu finden, das hat etwas Schönes. 
CB Ich jedenfalls glaube nicht an diesen Gedanken. Natürlich, wir Menschen müssen oftmals Schwierigkeiten und Tragisches durchleben, aber in meinen Augen geht es dabei eher darum, einen Weg zu gehen beziehungsweise einen Weg zu akzeptieren. Ich glaubte zwar eine Zeitlang an dieses Durchleiden und dadurch Wachsen, aber es hat mir nicht gutgetan. Es ist ja auch sehr stark ein romantisierender Gedanke.
KL Ich verstehe die Aussage in einem poetischen Sinn, aber ich teile sie nicht. Vielleicht war das eine Zeitansicht und ich bin mir daher nicht sicher, was wir heute damit machen. Ich denke nämlich nicht, dass wir durch den Schmerz müssen, damit wir ins Licht kommen. Natürlich können wir das Dunkel, unsere Schatten nicht ignorieren, all die Dinge, auf die wir nicht stolz sind. Wir müssen sie sehen, aber eher, um auch das Licht in uns und um uns herum erkennen zu können.
SZ Wobei ich sagen muss, dass dieser Gedanke in meinem Fall nicht ganz falsch ist. Ganz allgemein, aber auch im Künstlerischen. Es gab Vorsingen, bei denen ich nicht erfolgreich war, Wettbewerbe, die für mich nicht ideal gelaufen sind. Das hat mich allerdings jedes Mal stärker gemacht. Wenn ich mir vorstelle, dass ich alles sofort bekommen hätte, was ich mir im Augenblick gewünscht habe, wäre mein Leben anders verlaufen – und nach meiner Meinung, weniger gut. Hätte es bei mir gleich beim ersten Vorsingen geklappt, dann wäre ich irgendwo in einem kleinen Theater gelandet, einfach, weil es das erste auf der Vorsingliste war. Doch es hat eben nicht beim ersten Mal geklappt. Und dadurch war ich gezwungen, den Grund dafür zu finden und mich zu verbessern. Das gilt für meine Arbeit, aber auch fürs Privatleben. Man kann aus den Fehlern lernen und versuchen, es besser zu machen.
GN Wir Menschen haben – naheliegender Weise – Angst vor Krisen. Doch Krisen sind immer auch der Hinweis, dass eine Veränderung ansteht. Durch sie entsteht eine Bewegung, und wenn ich mich bewege, muss ich etwas zurücklassen. Das Problem ist aber, dass wir es uns gerne gemütlich machen und uns mit Veränderungen schwertun. Aber wenn man Menschen begegnet, die große Krisen erlebt haben, nehmen sie alles in der Rückschau leichter. Orfeo ist verletzt, Apollo sagt: Lass es gut sein. Und es gibt so etwas wie die Erlösung aus der Verzweiflung. An sich ein schöner Gedanke...

Die ganz klassisch immer wieder gestellte Frage bei dieser Oper lautet, warum Orfeo sich letztlich umdreht. Ist es ein Mangel an Vertrauen? Ein ganz natürliches Bedürfnis?
GN Puh. Das ist ja auch das Tolle an der Geschichte, dass man weiß: Er wird scheitern. Und dennoch jedesmal hofft. Warum aber dreht er sich um? In der Musik ist es nur sehr kurz erzählt. Orfeo freut sich – und auf einmal wird er unsicher. Da steckt etwas ganz Böses drinnen: der Zweifel. Wir alle kennen das unfassbare Glück der Liebe, aber womöglich kommt die Frage nach der Echtheit des Glücks auf: Ist es wirklich so? Wenn wir uns die Liebesliteratur um die Zeit von Monteverdi anschauen, dann lesen wir, dass man es mit der Treue nicht immer so ernst genommen hat. Vielleicht rührt dieser Zweifel daher – und ist sehr menschlich. Orfeo scheitert nicht an seiner Göttlichkeit, sondern seiner Menschlichkeit. Er schafft es, dank seiner Göttlichkeit in den Hades zu kommen und scheitert am Menschen in sich, weil er zu grübeln beginnt.
CB Vielleicht ist es ein Geräusch, dass ihn sich umdrehen lässt. Oder einfach Zweifel. Vielleicht ist es ein Moment, in dem die Ratio schwächer ist als das Gefühl. Man stelle sich vor: Da ist diese Person, die man über alles liebt, und sie ist ganz nahe und man kann sie jetzt gleich sehen... gleich sprechen. Er weiß im Kopf, dass er es nicht tun soll, aber die Vernunft ist nicht stark genug. Das spontane Gefühl siegt.
KL Ich glaube, dass wir diese Form des Zurückschauens in vielerlei Hinsicht leben. Indem wir versuchen, unser Schicksal zu kontrollieren, jeden Schritt, den wir gehen, zu kontrollieren. Das machen wir tagtäglich, in vielen Dingen. Es beginnt schon damit, dass wir unserem Bauchgefühl so oft nicht folgen. Aber manchmal ist es klüger, einfach zu vertrauen.
SZ Wir sind halt Menschen und machen Fehler, haben Angst, sind unsicher. Auch wenn man etwas wirklich will, kann man in nur einem Augenblick alles zerstören. Was man aber lernt, ist, dass man über das Schicksal nicht herrschen kann. Manchmal muss man loslassen, im Leben, aber auch in Beziehungen. Daher glaube ich, dass es auch gar nicht darum geht, ob er sich umdreht oder nicht. Sondern darum, dass man Dinge, die ihr Ende gefunden haben, nicht krampfhaft am Leben erhalten und sie konservieren kann. Sonst verliert man sich. Man muss Menschen auch gehen lassen können. Und soll daran glauben, dass man sich einmal wiedertrifft.
 

ORFEO
11. (Premiere) / 13. / 16. & 18. Juni 2022
Musikalische Leitung Pablo Heras-Casado
Inszenierung Tom Morris
Bühne & Kostüme Anna Fleischle
Licht James Farncombe
Video Nina Dunn
Choreographie & Bewegungsregie Jane Gibson
Mit u.a. Kate Lindsey / Slávka Zámečníková / Christina Bock – Georg Nigl / Andrea Mastroni


Das Gespräch führte Oliver Láng Bilder Lukas Gansterer / BÜHNE