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© Nikolaj Lund
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Mozarts Musik hat Ewigkeitsanspruch

Ist heute in der internationalen Musikwelt von den wesentlichen, stilbildenden Dirigenten die Rede, fällt sogleich der Name des aus Italien stammenden und heute in Berlin lebenden Antonello Manacorda. Dass kein wichtiger Konzertveranstalter, keine große Opernbühne auf ihn verzichten möchte, dass seine Interpretationen preisgekrönt sind, er das Publikum vom ersten Ton an zu packen versteht, Kritiker in Lobeshymnen ausbrechen ist eine Sache.
Eine andere die uneingeschränkte Anerkennung, die er in der eigenen Zunft genießt. Auch Manacorda selbst dürfte es wohl nicht bekannt sein, wie neidlos ihm die namhaftesten Kollegen (hinter seinem Rücken) Beifall zollen, Respekt aussprechen. Eine bedeutende Stellung in Manacordas breitem Repertoire nimmt übrigens das Werk Mozarts ein, nicht zuletzt seine Opern: Aktuell etwa Figaro an der Met, Così in Paris, Zauberflöte in Amsterdam und Brüssel, Neuproduktionen aller drei Da Ponte-Opern in Brüssel und 2019 Don Giovanni an der Wiener Staatsoper. Mit der Entführung aus dem Serail leitet der Mitbegründer des Mahler Chamber Orchestras und ehemalige Konzertmeister Claudio Abbados in ebendiesem Klangkörper erstmals eine Premiere im Haus am Ring.

Zu Beginn eine rein formale Frage: Die Entführung ist als Singspiel ausgewiesen, die Zauberflöte hingegen als große Oper. Wo liegt der Unterschied zwischen diesen beiden Werken?

ANTONELLO MANACORDA Allzu groß ist der Unterschied gar nicht. In beiden Fällen hat Mozart die unterschiedlichsten Aspekte wundersam miteinander verschmolzen, das Komische, das Ernste, das Humanistische, das Traurige, dazu Einflüsse aus der Volksmusik – und nicht zuletzt Elemente aus den Seria-Opern Christoph Willibald Glucks. Bei den Geharnischten fällt diese Inspiration durch Gluck sofort ins Auge, bei den beiden letzten Belmonte-Arien vielleicht weniger, weil man hier keinen Seria-Einschlag vermuten würde, aber er ist genauso vorhanden. Wie gesagt: Der Unterschied zwi- schen den beiden Werken ist kein so großer wie die formale Bezeichnung vermuten lassen würde. Das »große Oper« bei der Zauberflöte ist wohl auch eine Marketingleistung Schikaneders.

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ANTONELLO MANACORDA Keine Frage, da gab es einen gewaltigen Entwicklungsschritt, den man auch an seiner zeit- gleich entstandenen Gran Partita – einer gewissermaßen sängerlosen Oper – ablesen kann. Es ist ja interessant, was Mozart in ein Werk, das für das allgemeine Volk sein sollte, an Tiefe, an psychologischer Figurenausdeutung hineinver- packt. Sicher waren die Türkerien damals eine Modeerscheinung, die Mozart gerne aufgriff. Aber was er daraus gemacht hat, beschäftigt uns heute noch und vermutlich auch in der Zukunft.

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ANTONELLO MANACORDA Aber auch daran zeigt sich das Genie Mozarts, wie er eine Kompromisssituation in etwas Bedeutungsvolles umwandelt, was dann wieder die Regisseure zu großen szenischen Ausdeutungen inspirieren kann – im aktuellen Fall Hans Neuenfels. Es gibt in Wahrheit, von Strauss abgesehen, keinen Komponisten außer Mozart, bei dem die musikalische Interpretation derartig von der jeweiligen Inszenierung beeinflusst sein darf. Das Verblüffende bei Mozart ist nämlich, dass man als Musiker jeden Ton, jede Phrase, jede geschlossene Nummer aus diametral unterschiedlichen Perspektiven heraus lesen, verstehen, erklären kann – und es immer unverändert gut funktioniert. Das gibt seiner Musik einen Ewigkeitsanspruch. Weil es aber funktioniert, bin ich sogar verpflichtet, die Position eines Regiekonzeptes in meine Lesart des Notentextes einzubeziehen, da ja Bühne und Graben nicht voneinander zu trennen sind. Lebte Mozart heute noch, würde er wohl je nach Regievorgaben Teile umkomponieren. Ich kann als Dirigent natürlich nichts umkomponieren, aber in der Agogik, in der Art der Verzierungen, der Dynamik usw. dem Geschehen auf der Bühne folgen. Eine Koloratur kann zum Beispiel bei einem szenisch bedeutungsvollen Moment störend, kontraproduktiv sein – also lässt man sie weg. Bei einer anderen Regie ist sie an dieser Stelle vielleicht sogar notwendig. Kurzum: Der Dirigent inszeniert im Graben gewissermaßen mit.

Themenwechsel: Wie frei ist man bei Mozart in der Wahl der einzelnen Tempi? Gibt es einen dies- bezüglich übergeordneten Zusammenhang zwi- schen den einzelnen Musiknummern?

ANTONELLO MANACORDA Es gibt immer Beziehungen zwischen den ein-zelnen Teilen. Aus dramaturgischen Gründen, damit der Zuschauer das Gefühl einer richtig proportionierten Gesamtarchitektur bekommt und aus rein praktischen Gründen. Zur Zeit Mozarts gab es den Dirigenten, wie wir ihn heute kennen, noch nicht. Es gab also keinen, der irgendwelche ausgefallenen Temporückungen anzeigen konnte, alles hatte daher in einem richtigen Verhältnis zueinander zu stehen. Um die Sprache Mozarts zu begreifen, muss man als Interpret wissen, was Mozart gehört hat – u.a. die Bachfamilie, Haydn, den schon erwähnten Gluck – und sollte die Aufführungs- praxisbibel der damaligen Zeit kennen: die Violinschule seines Vaters. Dann wird einem zum Beispiel sehr schnell klar, dass bei Mozart eine alla breve-Angabe eine größere Bedeutung besitzt als die eigentliche Tempoangabe. So etwa bei der Belmonte-Arie »Wenn der Freude Tränen fließen«: dieses Adagio hat Generationen von Dirigenten zu extrem langsamen Tempi verleitet, aber wenn der Takt auf zwei – wie es in den Noten steht – statt auf vier Schläge gegeben wird, sieht die Sache gleich ganz anders aus, bekommt die Arie sofort einen viel natürlicheren Fluss. Dieses aus der Romantik herrührende Schwere, Pathosgeschwängerte betrifft übrigens nicht nur die Oper. Im Schauspiel lässt sich Ähnliches beobachten. Wir wissen, dass eine Hamlet-Aufführung zu Shakespeares Zeiten nicht länger als zweieinhalb Stunden gedauert hat – die romantische Tradition hat daraus rund vier Stunden gemacht. Anders gesagt: Mozart hat, so wie Shakespeare, in seinen Werken schon für die notwendige emotionale Akzentuierung gesorgt, er braucht unsere zusätzlichen Pathos-Rufzeichen nicht!

Apropos Pathos: Vor allem jüngere Hörer haben eine Affinität zu den Molltonarten, weil sie sie als weniger heiter und daher als dramatischer, spannender emp- finden. Aber bei Mozart ...

ANTONELLO MANACORDA ... gibt es die Facette des Dur, die noch viel melancholischer und trauriger daherkommt als jede Form des Moll, richtig! Moll ist bei Mozart (und auch schon bei Gluck) immer eine farbliche Schattierung, aber seine tiefe Melancholie in Dur verleitet noch viel mehr zum Weinen. Etwas Traurigeres als die beiden Gräfinnen-Arien in Nozze di Figaro gibt es gar nicht – und beide stehen in Dur. Oder denken wir im aktuellen Fall der Entführung nur an das letzte Duett Konstanze-Belmonte »Meinetwegen sollst du sterben«: Wie unfassbar verzweifelt ist doch dieses B-Dur!

Vergleicht man nun alle Werke Mozarts miteinander: Gibt es eine Ebene in seiner Musik, die nur in den Bühnenwerken vorkommt?

ANTONELLO MANACORDA Sicher ist, dass er in den Opern in den einzelnen Charakteren jeweils den Menschen an sich zeigt, in die tiefen Schichten der Seele hinabsteigt. Und das schon in einem frühen Werk wie Lucio Silla! Wenn also ein junger Mensch mit 16 schon so viel von der Psyche der Menschen versteht, so frühreif ist, dann kann das für ihn zu einem Problem werden. Menschen mit einer derartigen Ladung an Mate- rial und Begabung brauchen irgendwo ein Ventil, und meines Erachtens nach hat er dieses in seinen Opern gefunden.