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© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

MISE EN ABYME

Die tote Stadt 

Die »Mise en abyme«, so entnehmen wir dem Sachwörterbuch der Literatur, ist eine von André Gide 1893 eingeführte Bezeichnung für eine – dem Spiel im Spiel des Dramas entsprechende – Technik der Rahmenerzählung, bei der eine gerahmte Binnenerzählung Widerspiegelung der Rahmen-Haupthandlung ist, welche hierdurch – wie zwischen zwei Spiegeln stehend – ihre unendliche Fortsetzung erfährt. Der Begriff  »Mise en abyme« – nach altfranzösisch abyme – stammt aus der Wappenkunde und bezeichnet dort ein Wappenfeld im Wappen. abîme bedeutet zum andern aber auch »Abgrund« (von  altgriechisch abyssos:  »ohne Boden, grundlos, unendlich«); »Mise en abyme« könnte daher im Deutschen am ehesten umschrieben werden als: »in den Abgrund unendlicher Wiederholung gesetzt«. Genau dieser Technik bedient sich Willy Decker bei seiner im Dezember 2004 an der Wiener Staatsoper erstmals vorgestellten Inszenierung von Erich Wolfgang Korngolds Die tote Stadt. Ihr außerordentliches Gelingen beruht nicht allein auf der hochmusikalischen analytischen Durchdringung der Charaktere, der zugleich subtilen wie äußerst plastischen Personenführung und den Arrangements, die in kunstvoller Stilisierung die Stationen der inneren Handlung konkret und genau erzählen; denn es ist eine innere Handlung, die das Stück erzählt, und die – so möchte es uns glauben machen – zu einer inneren Wandlung des Protagonisten führt. Der verwitwete Paul hat sich in das verfallende Brügge zurückgezogen, um sich nur noch dem Andenken seiner verstorbenen Frau Marie zu widmen, »allein zu sein mit meiner Toten«. Maries Hinterlassenschaft, darunter einer unter einem Glassturz konservierten Flechte ihres blonden Haares, zollt er geradezu kultische Verehrung, den ihr gewidmeten Gedächtnisraum nennt er »Kirche des Gewesenen«. Aus seiner Versenkung reißt ihn – kurz vor Einsetzen des 1. Bildes der Oper – die Begegnung mit einer Doppelgängerin der Verewigten, Marietta, einer Tänzerin, die mit ihrer Truppe regelmäßig Gastspiele in Brügge absolviert. Marietta sieht Maria zum Verwechseln ähnlich, wobei nicht nur ihr Äußeres, sondern auch der Klang ihrer Stimme die Illusion einer Wiederauferstehung der Betrauerten nährt. Gegen den Rat seines Freundes Frank und den passiven Widerstand seiner Haushälterin Brigitta wird sich Paul wissentlich und willentlich dieser Illusion ergeben. Das 2. und das 3. Bild der Oper erzählen die Geschichte dieser Amour fou: Je weniger Paul sich freilich über die charakterliche und moralische Ungleichheit der leichtsinnigen und lebenshungrigen Tänzerin mit seiner Ehefrau hinwegtäuschen kann, umso tiefer gerät er in die sexuelle Abhängigkeit von Mariettas Körper. Alle Versuche Pauls, Marietta als bloßes Substitut der Verstorbenen zu demütigen, verstärken seine Hörigkeit. Die nicht nur mit den Artisten ihrer Truppe, sondern auch mit Pauls Freund Frank erotisch sich verausgabende Marietta will Pauls Eingeständnis erzwingen, dass er in ihr nicht etwa die Verstorbene, sondern einzig sie selbst begehrt. In der »Kirche des Gewesenen« nimmt Marietta den Kampf mit der Verstorbenen auf, indem sie sich, während eine Heilig-Blut-Prozession durch die Gassen der Stadt zieht, Marias Haarsträhne bemächtigt, diese sich um den Hals legt und zu tanzen beginnt. Paul beendet diese Entweihung, indem er sie zu Boden wirft und im Ringen mit der Haarflechte erdrosselt. Die Bühne verdunkelt sich. Als sie sich wieder aufhellt, sehen wir uns mit Paul an das Ende des 1. Bildes zurückkatapultiert, als Paul nach einer Vision, in der die orgiastisch tanzende Marietta die Erscheinung der Toten verdrängt hatte, zusammengesunken war: Das Erlebte war nur eine Vision, ein Traum der Angst-Lust des Protagonisten. Die Tänzerin schaut noch einmal kurz vorbei, um ihren vergessen Schirm abzuholen, und verabschiedet sich kokett. Doch Pauls Begehren ist erloschen, sein Traum hat ihm Mariettas Erscheinung entzaubert. Freund Frank schlägt Paul vor, gemeinsam die Stadt zu verlassen, und der allein zurückbleibende Paul sagt sich von der Illusion einer Wiederauferstehung seiner Gattin in diesem Leben los: Der »Traum der bittren Wirklichkeit« habe ihm »den Traum der Phantasie zerstört«.

Dem bürgerlichen Realitätsprinzip, dem sich das Ende der Oper damit beugt, haben auch schon vor Willy Decker die Regisseure misstraut: So legte Götz Friedrich in seiner 1983 an der Deutschen Oper Berlin herausgebrachten, seit 1985 auch an der Wiener Staatsoper gezeigten Inszenierung nahe, dass Paul nach dem Fallen des letzten Vorhangs Selbstmord begeht. Inga Levant ließ 2001 in Straßburg Paul sich die Pulsadern aufschlitzen und im Kellerraum seiner »Kirche des Gewesenen« verenden. Auch wenn Decker vor solcher Drastik zurückschreckt, so fällt seine Hinterfragung der offiziellen Moral nicht weniger nachdrücklich aus. Mit seinem Bühnenbildner Wolfgang Gussmann hat er ein szenisches Dispositiv geschaffen, das seinem Protagonisten die Flucht aus seinen Alpträumen zurück in eine Realität vermeintlich geordneter bürgerlicher Verhältnisse und Entscheidungen verunmöglicht. Denn ihr Raum zeigt zwei hintereinander gestaffelte Bühnen, von denen die erhöhte zweite eine exakte Wiederholung der ersten vorgelagerten Bühne darstellt. Zunächst scheint der bürgerliche Salon im Vordergrund die Realitätsebene vorzustellen, während seine Spiegelung im Hintergrund Pauls Traumbühne entspricht. Doch die Realitätsebenen vermischen sich und sehr 4 bald greifen Pauls Obsessionen auf die Vorderbühne aus. Und je mehr sich der Zuschauer auf das Spiel des zunehmend ununterscheidbar werdenden realen und imaginierten Geschehens einlässt, desto klarer wird ihm die wahrhaft abgründige Konstruktion der Oper bewusst. Diese potenziert ihre »Mise en abyme« von Realität und Traum durch Reflexion ihrer eigenen Theatralität. Denn Marietta ist Tänzerin, und nicht nur das: Sie tanzt im berüchtigten Nonnenballett in Meyerbeers Grand Opéra Robert der Teufel (1831) die Rolle der Helene, die Rolle einer verstorbenen Priorin also, die auf dem Friedhof zu neuem lasterhaften Leben erwacht. Marietta zitiert und persifliert diese Szene sogar vor Pauls und unseren Augen im 2. Bild der Oper. An dieser Stelle unterbricht Paul ihr Spiel, »fasst sie mit eisernem Griff bei der Hand und schreit ihr ins Gesicht«: »Halt ein! Du eine auferstandne Tote? Nie!« und »reißt ihr das Laken«, das ihr Leichentuch vorstellt, »vom Leibe«. Diese Aggression antizipiert natürlich seine Erdrosselung der Tänzerin vor der Zäsur zum Epilog. Die erfolgte Erdrosselung kommentiert Paul mit den Worten:

PAUL starrt entsetzt die Tote an »Jetzt – gleicht sie ihr ganz –« aufschreiend »Marie!«

Die Wortwahl ist verräterisch. Offenbar setzt die restlose Umschaffung der Marietta in Marie ihre Mortifikation voraus: Die Phantasiearbeit dieses pervertierten Pygmalions führt sein weibliches Artefakt nicht zur Be- sondern zur Entseelung. Nicht länger abzuweisen ist die Frage, ob nicht schon Marie Pauls erstes Mordopfer war (und Marietta vielleicht nicht sein letztes). Korngolds Oper steht in in der Tradition der schwarzen Romantik, die das Thema der Nekrophilie, der Liebe zu einer Toten, über Edgar Allan Poes Ligeia (1838) an Georges Rodenbach, den Autor der literarischen Vorlagen der Oper, der Erzählung Bruges-laMorte (1892) und des Theaterstücks Le Mirage (1894) weiterreichte. Im Wien Korngolds (und Sigmund Freuds) griff Arthur Schnitzler diesen Faden mit der Erzählung Die Nächste 1899 auf. An Rodenbach und Korngold hat das Autorentandem Pierre BoileauThomas Narcejac angeknüpft; deren Psychothriller D’entre les morts (1954, 1959 auf deutsch als Von den Toten auferstanden) wurde in der Verfilmung Alfred Hitchcocks als Vertigo (1958) weltberühmt. Der subtile Schwindel, in den uns dieser Film versetzt, ist dem von Korngolds Oper verwandt, nicht nur weil für beide Protagonisten, den Rentier Paul und Scotty, den Kriminalkommissar im Ruhestand, die blonde, im Film zu einer Spirale aufgedrehte Haarsträhne der Protagonistin zum unverzichtbaren Fetisch wird. In beiden Werken werden die jeweils kontrastierenden Frauengestalten, Marie-Marietta und Madeleine-Judy von der gleichen Darstellerin verkörpert. Denn auch Marie hat in der Oper einen Auftritt, am Ende des 1. Bildes, gesungen und gespielt von… Marietta (die sich kurz zuvor mit den Worten »Es gibt ein Wiedersehen im Theater!« von uns verabschiedet hatte). Denn natürlich sind Marie und Marietta ebenso wie die kühl-elegante Blondine Madeleine und die vulgäre rothaarige Judy ein und dieselbe Frau, deren Imago vom Blick des männlichen Protagonisten aufgespalten wird. In diesem Zusammenhang sei auch an die Ariadne-Zerbinetta-Dyade erinnert: Vorbild für Hofmannsthal war die Fallstudie einer Schizophrenen des Bostoner Psychiaters Morton Prince (The dissociation of a personality, 1908); vor der gemeinsam mit Strauss geschaffenen Oper war Hofmannsthal durch diese Fallstudie bereits zu dem Doppelwesen Maria-Mariquita im Andreas-Romanfragment inspiriert worden. Ab dem 6. Februar können wir uns wieder in Willy Deckers virtuosem Vexierbild von Korngolds Die tote Stadt verirren.

Text Sergio Morabito Bild Michael Pöhn