Cookie-Einstellungen

Dieses Tool hilft Ihnen bei der Auswahl und Deaktivierung verschiedener Tags / Tracker / Analysetools, die auf dieser Website verwendet werden.

Essentiell

Funktional

Marketing

Statistik
© Peter Mayr
Regisseur Calixto Bieito

LIEBESTOD IM VERTRAUEN

Informationen & Karten »Tristan und Isolde«

Es ist das Duett im zweiten Akt. Die Herausforderung, die Richard Wagners Tristan und Isolde an jeden szenischen Zugang stellt, kulminiert hier in vierzig Minuten, in denen sich die Liebe zur Metaphysik übersteigert, in denen zwei Figuren im Gesang und in der Musik nicht verschmelzen, sondern sich singend synthetisieren in etwas ganz anderes: Die beiden Nachtgestalten schaffen aus der Liebe, wie Wagner sie denkt, eine eigene Wirklichkeit.

BEIDE
selbst dann
bin ich die Welt:
Wonne-hehrstes Weben,
Liebe-heiligstes Leben,
Nie-wieder-Erwachens
wahnlos
hold bewusster Wunsch.

Vor allem im ersten Akt der Handlung – so die Bezeichnung, die Wagner für sein Werk gewählt hat – begegnen uns gekonnt gesetzte Elemente einer »äußeren« Dramenhandlung: Figuren werden eingeführt, auch motivisch; Isoldes wiederholte Versuche, Tristan zu konfrontieren, bauen Spannung auf; die Vorgeschichte, die Wagner aus Gottfried von Straßburgs Versroman Tristan entnommen hat, erzählt Isolde in atmosphärisch starken Rückblenden.

Im zweiten Akt steht die äußere Handlung mit Tristans Eintreten beinahe völlig still, die innere dringt in den Vordergrund. Carl Dahlhaus hat darauf hingewiesen, dass in diesem zweiten Akt die Konventionen zumindest der neuzeitlichen Dramatik außer Kraft gesetzt scheinen, entwickelt sich die Substanz des Zwiegesprächs zwischen Tristan und Isolde doch »nicht dialogisch, zwischen den Personen, sondern in ihnen, als gemeinsamer innerer Vorgang.« Richard Wagner selbst hat 1859 einem Brief an Mathilde Wesendonck eine Beschreibung des Vorspiels zur Oper beigelegt, die entsprechend zuspitzt:

»Ein altes, unerlöslich neu sich gestaltendes, in allen Sprachen des mittelalterlichen Europa nachgedichtetes Ur-Liebesgedicht sagt uns von Tristan und Isolde. Der treue Vasall hatte für seinen König diejenige gefreit, die selbst zu lieben er sich nicht gestehen wollte, Isolden, die ihm als Braut seines Herrn folgte, weil sie dem Freier selbst machtlos folgen musste. Die auf ihre unterdrückten Rechte eifersüchtige Liebesgöttin rächt sich: den, der Zeitsitte gemäß für den nur durch Politik vermählten Gatten von der vorsorglichen
Mutter der Braut bestimmten Liebestrank lässt sie durch ein erfindungsreiches Versehen dem jugendlichen Paare kredenzen, das, durch seinen Genuss in hellen Flammen auflodernd, plötzlich sich gestehen muß, dass nur sie einander gehören. Nun war des Sehnens, des Verlangens, der Wonne und des Elends der Liebe kein Ende: Welt, Macht, Ruhm, Ehre, Ritterlichkeit, Treue, Freundschaft – alles wie wesenloser Traum zerstoben; nur eines noch lebend: Sehnsucht, Sehnsucht, unstillbares, ewig neu sich gebärendes Verlangen, Dürsten und Schmachten; einzige Erlösung: Tod, Sterben, Untergehen, Nichtmehrerwachen!«

Indem er dieses »nur eines noch lebend« in Text und Musik setzte, erweiterte Richard Wagner die Vorstellung dessen, was Dramatik kann und sein kann, nachhaltig. Die Entwicklungen in der (Opern)Regie bis ins 21. Jahrhundert konnte er kaum ermessen; wohl aber, welche Rolle die Inszenierung für die Wirkung des Tristan spielen würde. »Nur mittelmäßige Aufführungen können mich retten!«, schrieb er in jenem Brief an Mathilde Wesendonck, in dem er die »Furchtbarkeit« seines Werks schilderte.

Als die Proben zur Wiener Neuproduktion von Tristan und Isolde beginnen, will der Regisseur Calixto Bieito nicht lange über sein Konzept sprechen. Die Bühnenwelt, die Rebecca Ringst geschaffen hat, die Kostümentwürfe von Ingo Krüger sind in Grundzügen aus der früheren Präsentation bekannt, was er »sonst gesagt hat«, so der Regisseur, sei weiterhin gültig. Er meint seine Andeutungen aus der ersten Präsentation, Andeutungen darüber, wie Tristan und Isolde über eine gemeinsame Geschichte, ein Geheimnis verfügen, wie sie sich erfolglos voneinander befreien wollten, wie sie wieder aufeinandertreffen. Und dass es sich um ein unglaubliches Stück über die Liebe handle.

Jetzt, am Beginn der Proben, will Calixto Bieito nicht weiter erzählen und erklären, er will anfangen: Mit dem Duett im zweiten Akt. Er hat eine Idee, sagt Bieito, eine, zwei, mehrere Ideen, Plan A, B und C, aber man müsse es ausprobieren, man müsse sehen. Und so sieht das Team in den nächsten Tagen, wie auf der Probebühne im Orgelsaal eine Szene nicht gebaut, nicht gestellt, sondern belagert und belauert wird. Bis sie sich schließlich, scheinbar überrascht, gleichsam ergibt, in mehrfachem Sinn.

Die Bühnenbildnerin Rebecca Ringst, die seit vielen Jahren eine enge, vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Calixto Bieito verbindet, hat für die beiden Nachtgestalten zwei Räume gebaut, die sie, vereinfachend beschrieben, zunächst einmal überwinden, aus denen sie sich befreien müssen, um in die allumfassende Nacht der Liebe einzugehen. Die Probebühnenmannschaft hat im Orgelsaal die Räume in den entsprechenden Dimensionen und mit dem Originalmobiliar und den entsprechenden Requisiten aufgebaut; dass sie nicht die technischen Finessen aufbieten können, die eine Rebecca-Ringst-Bühne zu bieten hat, ist klar, es geht hier zunächst um die Größenverhältnisse. Also sehen wir in der ersten Abendprobe zwei Räume, einen Tristan-Raum, einen Isolde-Raum. Sie sind ganz unterschiedlich ausgestattet, deuten Situationen an, an die sich viele Assoziationen anschließen lassen, sind klar und vieldeutig zugleich. Diese Räume bespielt nun der Regisseur. Die erste Probe ist technisch, es sind keine Sängerinnen und Sänger bestellt. Calixto Bieito und Rebecca Ringst besprechen sich, füllen die Räume, arrangieren die Requisiten. Dann bittet der Regisseur seine Assistentinnen, verschiedene Situationen zu stellen, sich hierhin zu setzen, dort zu stehen. Wir sehen, wie Andeutungen von Bildern entstehen, die nur Ausgangspunkte sein können. Der Regisseur sieht sie auch, sieht sie sich an und überlegt. Dann bedankt er sich, die Probe ist vorbei.

Am nächsten Abend sind Martina Serafin und Ekaterina Gubanova bestellt. Das Duett, das den Regisseur so beschäftigt, steht noch nicht auf dem Plan, sondern der Beginn des zweiten Akts, das Gespräch zwischen Brangäne und Isolde, ehe die warnende Zünde ausgelöscht ist, Tristan die Szene stürmt und die Handlung von außen nach innen verkehrt wird. Der Regisseur spricht viel mit den Sängerinnen, er vermittelt ihnen die Atmosphäre, in der er sie sich denkt. Und die Atmosphäre kann nicht konkret sein, sie besteht aus Gefühlen, aus Bildern, Assoziationen. Die Raum-Versuche vom Vorabend spielen eine Rolle, aber nicht als eine Übertragung des Gestellten auf die Solistinnen. Der Regisseur scheint vielmehr das Raumgefühl, das er in seinen Versuchen gewonnen hat, auf die Sängerinnen zu übertragen. Martina Serafin und Ekaterina Gubanova haben Nachfragen, besprechen sich mit dem Regisseur, mit der Bühnenbildnerin, probieren aus. Es wird auch gesungen, allerdings nur wenig, vieles wird angedeutet und ausprobiert. Erstaunlich ist dabei, wie in den Probendekorationen immer wieder Bilder, Konstellationen zwischen den Sängerinnen entstehen, die »fertig« wirken. Am Ende der Probe wirkt der Regisseur optimistisch, wenn auch weiter angespannt: Das Duett wartet noch.

Am Ende der ersten Probenwoche ist es so weit. Die Räume sind jetzt voll ausgestattet, die Innenausstattung entspricht der Situation auf der Bühne. Der Regisseur kennt die Sängerinnen und Sänger – die Kernbesetzung wäre bei dem Pariser Ring zum Einsatz gekommen, der aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt werden musste, mit einigen Sänger*innen hat Calixto Bieito schon öfter zusammengearbeitet.

Etwa mit Andreas Schager. Der nicht zuletzt für seine Interpretationen von Wagner-Partien gefeierte Tenor ist zum ersten Mal zur Probe geladen, er sieht sich die Bühnenbildentwürfe an, lässt sich die Kotüme erklären. Auch er ermisst den Raum, unterstützt von Calixto Bieito und Rebecca Ringst, beginnt zu assoziieren. Regisseur und Sänger sprechen vertrauensvoll miteinander, eindringlich, aber nicht sehr lange. Dann beginnt der zweite Akt.

Eine gute Stunde später hallt die Probebühne vom Applaus der Mannschaft. Die Szene liegt in Trümmern – ob das im übertragenen oder im wörtlichen Sinn zu verstehen ist, wird nicht verraten und ist bei den Tristan-Vorstellungen nachzuprüfen. Wesentlich ist: Die erste Szene und das Duett des zweiten Aktes von Tristan und Isolde sind gerade vollständig und ohne Unterbrechung gesungen und gespielt worden, und das Ergebnis hätte eine gelungene Vorstellung abgeben können. In den folgenden Wochen wird sich erweisen, dass in dieser Probe, in der sehr viel aus Inspiration, Spontaneität und Mut der Solistinnen und Solisten heraus entstanden ist, tatsächlich das feste Fundament für eine künstlerische Arbeit gelegt wurde, die nicht Improvisation, sondern Darstellung, Repräsentation als künstlerische Übersetzung dieser ungemein schwierigen Szene ist. Die »innere Handlung«, mit der Wagner der inszenierenden und singdarstellenden Nachwelt eine so schwierige Aufgabe gestellt hat, ist hier in einer Vereinigung aus Impulsivität und inhaltlicher Durchdringung in Bilder gegossen. Die Beurteilung des Ergebnisses ist dem Publikum überlassen. Als Eindruck aus der künstlerischen Arbeit Calixto Bieitos bleibt die Faszination dafür, wie eine Szene gewissermaßen gedanklich, aber auch bildlich immer wieder umkreist, eingekreist wird, um sie dann den Sängerinnen und Sängern ohne allzu detailreiche Erläuterungen so nahezubringen, dass sie gewissermaßen im Rausch eines Abends entsteht und dann wiederholbar, theaterpraktikabel, probenfähig werden kann. Es ist eine Atmosphäre aus höchster Konzentration und Inspiration, in der diese Arbeit entsteht: Inspiration und Konzentration der Sängerinnen und Sänger, die hier ohne Rücksicht auf Verluste, dafür mit allergrößter Lust arbeiten. Wie erreicht man diese Atmosphäre? »They trust me«, sagt Calixto Bieito, »sie vertrauen mir.« Wenige Worte, die ungemein Komplexes beschreiben.

Text Nikolaus Stenitzer