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© Wiener Staatsoper GmbH / Michael Pöhn
Vera-Lotte Boecker (Fusako) und Bo Skovhus (Ryuji) mit den Regisseuren auf der Probebühne
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Jossi Wieler im Gespräch mit Josh Lovell (Noboru)

IN TRAUM­HAFTER VERDICHTUNG

Hans Werner Henze strukturiert seine Oper durch Zwischenspiele, die er »Verwandlungsmusiken« nennt. Bei euch verwandelt sich das Bühnenbild in diesen Momenten zwar, aber ihr nutzt die Zwischenspiele auch für zusätzliche Szenen.

JOSSI WIELER Henze hat sich das womöglich so gedacht, dass eine Szene im Schlafzimmer spielt, dann geht der Vorhang runter, dahinter wird umgebaut, und dann geht es auf dem Schiff weiter. Das ist sehr filmisch gedacht. Für das Theater muss man eine eigene Erzählweise erfinden. Inte­ ressanterweise entsteht durch die Verwandlungsmusiken ein kontinuierliches Fließen und keine harten Schnitte. Dadurch ergibt sich ein eigener Kosmos, der theatralisch ist und nicht realistisch.

SERGIO MORABITO Die Handlungsorte sind in Mishimas Roman akribisch, geradezu dokumentarisch geschildert. Die Boutique von Fusako kann man heute noch in Yokohama besuchen, am sogenannten »Trockendock«, dem geheimen Treffpunkt der Bande, stehen jetzt Einfamilienhäuser. Aber wenn man den Roman liest, beschleicht einen das Gefühl, dass es um ein viel kom­ plexeres, traumatischeres und obsessiveres Geschehen geht. Wenn wir auf der Bühne nur diesen Roman illustrieren würden, kämen wir nicht an das Innere heran. Wir zeigen das Geschehen daher in traumhafter Verdichtung: Wir beginnen nach dem Mord an Ryuji und nach dem Verschwindenlassen der Leiche, dann gehen wir in der Erinnerung zurück an den Anfang, und so setzt sich die Geschichte in der Erinnerung fremd und surreal neu zusammen. 

JOSSI WIELER Das Surreale beginnt schon damit, dass der japanische Autor Mishima einen europäisch inspirierten Roman schreibt, der in Japan spielt, in einer französischen Boutique. Und dann erfindet der europäische Komponist Hans Werner Henze eine musikalische Welt dazu ... 

... und der Text der Oper wird später ins Japanische rückübersetzt, was zu musikalischen Veränderungen führt ...

JOSSI WIELER Ja, es oszilliert auf vielen kulturellen Ebenen. Der Klang ist ein europäischer und kein japanischer, und doch meint man manch- mal, Tempelglocken zu hören. Dazu kommen konkrete Geräusche, Baustellenlärm oder Hafengeräusche. 

ANNA VIEBROCK Und auch für das Meer gilt: Was schon in der Musik ist, braucht man nicht noch einmal auf der Bühne illusionistisch zu verdoppeln.

SERGIO MORABITO Henze schrieb im Vorfeld der Uraufführung plötzlich davon, dass man einen Ritualstil erfinden und sich dabei am Kabuki-Theater orientieren sollte. Offensichtlich hat er gespürt, dass die Musik, die dieses Libretto in ihm freigesetzt hat, gar nicht mehr mit den filmischen Mitteln zu erzählen ist, die sein Libretto nahelegt. 

ANNA VIEBROCK Ich muss dennoch sagen, dass mir die genaue Recherche, die Mishima für die Handlungsorte betrieben hat, sehr entgegen kommt. Auch ich wäre zur Vorbereitung am liebsten nach Yokohama ge- fahren, was wegen der Pandemie nicht möglich war. Aber meine Studentin Keiko Nakama hat mir eine Menge Material besorgt. Ich habe Fotos einer Lagerhalle in Yokohama gefunden, die jetzt das Zentrum des Bühnenbildes ist. Mir gefällt daran, dass das Tor aussieht wie ein Mund und darüber zwei runde Fenster wie Augen. Das hat mich an Bilder von Alfred Kubin erinnert, von dem es Zeichnungen gibt, auf denen Haustore wie Münder aussehen, aus denen phantastische Objekte herausquellen. Man kann sich vorstellen, dass das der Kopf von Noboru ist, aus dem Szenen herauskommen oder hineingeschoben werden. 

Je nach der Beleuchtung kann die hohe Wand aussehen wie ein Schiff oder wie ein Meerespanorama. 

ANNA VIEBROCK Im Ganze ist es ein Pier, aber es sind verschiedene Elemente miteinander verschachtelt, auch die Boutique hat sich dort eingenistet. Nichts ist eindeutig, aber es kann auch so konkret wie eine Filmszene wirken, wenn Fusako in ihrem Sommerkleid neben dem Seemann steht oder Noborus Freunde aufgereiht auf dem Geländer sitzen wie in Fellinis Vitelloni. 

SERGIO MORABITO Wir haben uns gefragt, wie es nach dem Mord weitergeht. Der Roman endet mit den Hochzeitsvorbereitungen, zeitgleich wird Ryuji in den Hinterhalt gelockt und ermordet. Mehr wissen wir nicht. Vielleicht wird die Leiche nie gefunden, so dass Fusako nicht sicher sein kann, ob er nicht im letzten Moment vor der Hochzeit abgehauen ist. Was passiert mit ihr nach diesem unerklärlichen Verlust? Ich nehme an, sie spürt, dass ihr Sohn etwas mit Ryujis Verschwinden zu tun haben muss. Eigentlich kann es nur mit dem Zusammenbruch ihrer Kleinfamilie enden und mit dem Ende ihres Geschäftes. Auch das erzählen wir mit dem fragmentierten Bühnenbild: Es gibt nur noch Versatzstücke dieser Geschichte, anhand derer das Geschehen in der Rückschau vergegenwärtigt wird. 

Zu den vielen Dingen, die in dieser Geschichte zerstört werden, gehört auch das Heldenbild, das sich Noboru von Ryuji macht. 

JOSSI WIELER Noboru muss diese Vorstellung aus vielen Gründen aufgeben: Zum einen verliebt sich dieser Seemann in seine Mutter, die seit dem Tod des Vaters nur ihm gehört hat. Das ist eine sehr intensive Bindung, fast schon symbiotisch. Zum anderen gibt es die Ideologie seiner Gang, vor allem des Anführers, der alles Bürgerliche ablehnt, und stattdessen nach Höherem strebt. Aber dieses »Höhere« ist gewalttätig und destruktiv. 

Es bleibt unklar, welches Ideal die Gang verfolgt und welche Heldentaten Noboru eigentlich von Ryuji erwartet. 

SERGIO MORABITO Es sind immer nur erstarrte Bilder, die beschrieben werden: Ryuji, der mit dem Schiff davonfährt, mit der Mütze winkt und am Horizont verschwindet, in strahlendes Weiß gekleidet. Klischees, Fetische und Projektionen – Dinge ohne lebende Substanz. Das Besondere an Mishima ist, dass er auch das latent Faschistische seiner Ästhetik und die inhaltslosen Phrasen vom Heldentum gnadenlos demontiert. Deshalb ist es entlarvend, wenn ein Martin Sellner ein Mishima-Poster an der Wand hat. Mishima ist intelligenter und überführt seine eigenen »Ideale« immer wieder ihrer Nich- tigkeit. An einer Stelle erklärt er ganz offen, dass sein Wunsch, Japan wieder ins Kaiserreich zurückzukatapultieren, nur ein Inszenierungsvorwand für seinen »Heldentod« ist. Es geht ihm um keine Werte, sondern um den Tod. Nur Identitäre in Österreich oder Ultrakonservative in Japan glauben, das positiv besetzen zu können – denn da gibt es nichts Positives, es zielt auf das Nichts. 

ANNA VIEBROCK Wir haben viel überlegt, wie diese Jungs angezogen sind: Sind das junge Schnösel, sind das College-Schüler, sind das Nietzsche- aner? Ich spüre bei Henze auch eine gewisse Sympathie der Gang gegenüber. Die Musik öffnet da einen rätselhaften Raum für die Jungs, das kann man schwer beschreiben. 

Ihr lasst auch offen, ob diese Gang wirklich existiert oder ob sie eine Fixe Idee oder das Produkt einer Persönlichkeitsspaltung von Noboru ist. 

JOSSI WIELER Wir arbeiten in diese Richtung, aber ich denke nicht, dass sich das unbedingt vermitteln muss. Man hört sie, man sieht sie, daher haben die Jungs auf der Bühne eine Realität, und eine Rangelei ist eine Rangelei. Aber sie tauchen in unserer Erzählweise auch an Stellen auf, an denen sie nicht vorgesehen sind, beispielsweise notieren sie die »Vergehen« Ryujis, für die er am Ende verurteilt wird. Merkwürdigerweise reagiert Ryuji bei der Zufallsbegegnung am Brunnen gar nicht auf die Jungen, obwohl sie sich über ihn lustig machen, was nahelegt, dass sie nur in Noborus Kopf existieren. Aus den Möwenschreien machen wir einen stummen Auftritt der Gang, der nur von Noboru wahrgenommen wird. Die Grenze zwischen Realem und Halluziniertem ist fließend. 

ANNA VIEBROCK Jetzt tragen die Jungs im Grunde britische College-Kleidung, und dazu Mäntel, die von ihnen selbst bearbeitete Second-Hand- Mäntel sein könnten. Vielleicht sind sie auch »Fashion Addicts«. Noboru trägt in Erinnerung an den Paul Schrader-Film über Mishima eine alte japanische Schuluniform. 

Die Entstehungszeit der frühen 60er Jahre findet vor allem in den Kostümen Fusakos ihren Niederschlag. 

ANNA VIEBROCK Fusako ist in ihrem Lebensstil sehr konservativ. Ich musste an die Melodramen von Douglas Sirk denken. Das Konservative zeigt sich für mich darin, dass sie sich ständig umzieht. Damit hat man in einer bestimmten Gesellschaftsschicht sein Leben verbracht, immer das passende Kleid zu wählen für die Arbeit, für den Nachmittag, für den Abend, ins Restaurant und so weiter. 

SERGIO MORABITO Fusako ist die einzige Frau in diesem Männerensemble, das ist anders als im Roman. Und so verkörpert sie auch alle Rollen: Sie ist Mutter, Geliebte, Hausfrau, Chefin, Witwe und Braut ... auch das erzählen die vielen Kostüme, neben ihrem Modebewusstsein. Aber darüber hinaus hat sie etwas Luluhaftes, das wir meinen, auch in der Musik zu hören. 

Man würde vielleicht erwarten, dass sie die Gegenwelt zu dem Männlichkeitskult der Gang darstellt, dass sie warmherzig und mütterlich ist. Aber so ist sie nicht. 

JOSSI WIELER Sie ist ein Kontrollfreak, eine toughe Businessfrau und alleinerziehende Mutter. Sie schmeißt diese Boutique seit vielen Jahren, und achtet darauf, dass ihr Sohn nicht in schlechte Gesellschaft gerät. Deshalb schließt sie ihn ein. Das ist brutal, aber auch dem wohnt eine gewisse archaische Tragik inne. Unter dem Melodram liegt eine griechische Tragödie: Der zweite Akt beginnt mit dem größten Glück des Paares zu Neujahr. Fusako war noch nie so glücklich, aber wir wissen: Dieser Sonnenaufgang führt in die Katastrophe. 

ANNA VIEBROCK Mich erinnert es an Fassbinders Nachkriegs-Geschichten. Vielleicht ist Fusakos Mann im Krieg gefallen. Das war eine Zeit, in der die Frauen tough sein mussten, als Witwen und Geschäftsfrauen, aber alles in dieser spießigen Welt. Ich würde daher das Archaische etwas weniger betonen und mehr die historische Situation. 

SERGIO MORABITO Fusako hat bisher ein diszipliniertes Leben geführt, und dann tritt dieser Seemann in ihr Leben, der gar nicht in ihre elegante Welt passt, dem sie gar nicht begegnet wäre, wenn sie nicht Noboru hätte eine Freude machen wollen mit der Schiffsbesichtigung. Es ist eine Amour fou, die in ihrem Leben gar nicht passieren dürfte, aber sie lässt sich darauf ein, und dann muss sie erleben, wie ihr Traum von der Patchwork-Familie scheitert. In der letzten Szene von Fusako geht es scheinbar um die Hoch- zeitsvorbereitungen, aber wir erzählen sie eher als Epilog, in dem wir sehen, wie sie an dem Erlebten zerbricht und verrückt wird, eine Wahnsinnsszene. 

JOSSI WIELER Interessanterweise hat Simone Young etwas ähnliches beschrieben: Dieser Monolog kommt wie aus einer anderen Bewusstseinsebene oder Jahre später aus der Erinnerung. 

Hat Fusako Schuld auf sich geladen? 

SERGIO MORABITO Im Roman wird das Guckloch ja nur deswegen entdeckt, weil sie ihren Sohn einschließt. Der kriegt daraufhin einen Wutanfall, reißt alle Schubladen aus seinem Schrank und dadurch fällt ihm auf, dass Licht durch die Wand fällt. 

JOSSI WIELER Das meine ich mit dem Archaischen: Alles ist kausal verknüpft, jeder Schritt führt zum nächsten und zieht damit die Katastrophe nach sich. 

ANNA VIEBROCK In der Oper heißt es, dass Fusako ihrem Sohn einen Kuss gibt und ihn zu Bett bringt. Im Roman ist das viel herber, da gibt es keinen Kuss, sondern die lakonische Überlegung, dass der Junge im Falle eines Feuers zwei Stockwerke tief auf den Beton springen müsste und tot wäre. Also diese Frau ist schon abgründig. Ich kann mir auch vorstellen, dass sie weiß, dass ihr Sohn sie beobachtet. 

Auch Noboru verliebt sich in den Seemann. 

SERGIO MORABITO Mishimas Persönlichkeit wird oft in Zusammenhang mit einer verdrängten oder sublimierten Homosexualität gebracht. Ich teile aber die Einschätzung von Maguerite Yourcenar, dass Erotik oder Sex im Leben von Mishima kaum eine Rolle gespielt hat; entscheidend war sein Todestrieb. Henze hat die homoerotische Beziehung des Jungen zu Ryuji verstärkt. Sie beruht aber nicht auf Gegenseitigkeit, weil Ryuji nur insoweit an dem Sohn interessiert ist, als er die Verbindung zur Mutter herstellt. 

JOSSI WIELER Der Junge bezieht es fälschlicherweise auf sich und ist entsprechend eifersüchtig und verletzt. Er fühlt sich instrumentalisiert. 

SERGIO MORABITO Im Park sagt Ryuji: »Ich habe Lust in einen Brunnen zu springen, am liebsten mit ihr«, lädt dann aber den Jungen dazu ein. Dabei denkt er natürlich die ganze Zeit an die Mutter. 

JOSSI WIELER Sicher erinnert Noboru ihn auch an seine eigenen Jugendträume. So wie für den Jungen, der zuhause eingeschlossen wird, das Meer die Freiheit verkörpert, war es früher wohl auch mal für Ryuji. Aber für ihn haben sich die Träume nicht erfüllt, er empfindet seinen Job nur noch als öde Pflichterfüllung. 

ANNA VIEBROCK Er ist ja auch bei der Handelsmarine, das ist kein interessanter Job. 

SERGIO MORABITO Er ist auf dem Schiff ähnlich isoliert wie Noboru: Während Noboru jeden Abend von seiner Mutter eingeschlossen wird, schließt sich Ryuji selbst in seine Kabine ein. Er ist kein geselliger Mensch, sondern eher depressiv, möchte in Ruhe seine Seemannschnulzen hören und dabei auch mal eine Träne vergießen. Und am Ende muss er feststellen, dass er in der Ehe mit Fusako ebenso wenig einen Lebenssinn finden kann wie er ihn in der Seefahrt gefunden hat. Der Gedanke an Selbstmord begleitet diesen Menschen von Anfang an, und möglicherweise ist der Tod, in den er da am Ende geht, auch keiner, der nur von außen über ihn verhängt wird.

Das Gespräch führte Ann-Christine Mecke