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© Thomas Aurin

Herbert Fritsch: EROBERER VON UNBEKANNTEN RÄUMEN

Mit dem Barbiere di Siviglia zeigt Regisseur Herbert Fritsch seine erste Arbeit an der Wiener Staatsoper. Die Dramaturgin und Autorin Sabrina Zwach arbeitet seit vielen Jahren mit Fritsch zusammen. In ihrem Porträt erzählt sie von der Macht des Einbruchs, klingenden Körpern im Raum und einer Auferstehung in Wien.

Um zu Beginn die wichtigste Frage zu klären: Herbert Fritsch wird stets für einen Österreicher gehalten – ist er aber nicht!

Herbert Fritsch, 1951 in Augsburg geboren, wächst zunächst bei seinen Großeltern in der Oberpfalz, später bei seinem Vater in Hamburg auf. Die Mutter ist mit einem amerikanischen GI in die USA ausgewandert. In Hamburg besucht er die katholische Bonifatiusschule. Der katholische Glaube hat ihn stark geprägt, die Gewänder, das Ritual, der Weihrauch, das Monumentale der Orgel. Später spielen Drogen und die damit verbundene Kleinkriminalität eine große Rolle. Fritsch knackt in den 1970er-Jahren Apotheken und wird verhaftet. »Als ich das erste Mal durch eine zerbrochene Scheibe gegangen bin, war das ein Gefühl, das mich mein ganzes Leben begleitet hat. Man steht in einem Raum, den man sich erobert hat«, sagt Fritsch 2013 in einem Interview der Berliner Zeitung. Das Gleiche gilt für seine Inszenierungen: Die Bereitschaft zum Risiko ist geblieben und der Drang, immer neue Räume zu erobern und zu bespielen. Ein Jugendrichter setzt die anstehende Haftstrafe aus – mit der Bedingung, dass Fritsch eine Ausbildung beginnt. Er entscheidet sich für die Ausbildung an der Schauspielschule Otto-Falckenberg in München. Dort bleibt er nur ein Jahr und spielt zunächst an den Münchner Kammerspielen, dann ist er als Schauspieler für Film und Theater und als Sprecher zahlreicher Hörspiele tätig.

In München lernt er dann auch einige Jahre später Frank Castorf kennen und spielt 1990 in dessen Inszenierung von G. E. Lessings Miss Sara Sampson den Mellefont. Die beiden haben einander gesucht und gefunden und Fritsch geht mit Castorf an die Volksbühne nach Berlin, wo er bis 2007 zu den prägendsten Akteuren zählt und sich den Ruf eines anarchischen Ausnahmeschauspielers erarbeitet.

Frank Castorf sagt 2017, als Fritsch den Theater- preis der Stiftung Preußische Seehandlung erhält, über Fritsch als Schauspieler: »Wir haben viele sehr verschiedene Schauspieler an der Volksbühne gehabt. Und das Schöne war, dass die Verschiedenheit das ist, was einen zusammenführt. Und Herbert war immer besonders verschieden, weil er auf diesen Körper aufmerksam gemacht hat, auf diese Überforderung, auf dieses Nackte.«

Parallel zu seinem Engagement an der Volksbühne ist Herbert Fritsch als Medienkünstler und Filmregis- seur tätig und kreiert sein gesamtkünstlerisches Projekt hamlet_X in Berlin. Er gilt mit diesem Projekt als Pionier der digitalen Kunst beziehungsweise derjenigen, die den digitalen Raum als Bühne für künstlerische Projekte erkannt haben.

Herbert Fritsch beschäftigt sich mit dem neugeborenen Internet und den so genannten Chat- rooms. Weil ihn das »Chatten« als solches augenblicklich langweilt, kopiert er den gesamten Hamlet- Text und schickt ihn in die verschiedenen Chatrooms, unter dem Benutzernamen »hamlet_X«. Die unmittel- bare Folge: Herbert Fritsch wurde aus allen Chatrooms der ersten Stunden des Internets verbannt und hat sie bis heute nicht mehr betreten. Auch hier war er als Einbrecher unterwegs, als Eindringling und Eroberer des neuen digitalen Raums. Geblieben ist der Name »hamlet_X«, und inzwischen steht er für ein imposantes Werkkonvolut: In 111 Kurzfilmen, einem Kinofilm, einem Künstlerbuch und einer Performance erzählt Herbert Fritsch die Hamlet-Geschichte neu und unendlich facettenreich. hamlet_X ist nicht Fritschs erster medialer Streich, denn bereits in den 1980er-Jahren inszeniert er experimentelle Kurzfilme. So heißt das Genre zumindest offiziell – nicht für Fritsch, der mit Blick auf seine Filme von »absolut sehenswerten Blockbustern« spricht. Unter Titeln wie Der Ohrenwurm, Der Zitterchor oder Die Suppe schafft er filmische Kunstwerke mit Schauspieler*innen wie Rufus Beck, Katja Riemann oder Peter Lohmeyer.

Während Herbert Fritsch also parallel zu seiner Arbeit als Schauspieler Filme inszeniert, erstarkt der Wunsch, als Theaterregisseur zu arbeiten. Seine erste Inszenierung, die er 1992 an der Berliner Volksbühne zeigt, basiert auf Daniil Charms’ Text Die herausfallenden alten Weiber. Die neue Rolle als Regisseur bringt neue Möglichkeiten, auch eine neue Erkenntnis: Fritsch wird klar, dass er, will er sich als Regisseur entwickeln, die gewohnte Umgebung verlassen muss. Nach 14 Jahren an der Volksbühne verlässt er das Haus. Es ist dann Molières Der Geizige, den Fritsch 2005 in Luzern inszeniert und der gleichzeitig den Auftakt für einen neuen zu erobernden künstlerischen Raum bietet. Sein Weg führt über Halle, Wiesbaden, Magdeburg, Schwerin und Leipzig – und schließlich doch wieder nach Berlin. Mit Die (s)panische Fliege (2011) beginnt Fritschs zweite Periode an der Berliner Volksbühne, wo er erneut seine künstlerische Heimat findet, für viele Jahre. Mit seinem Ensemble schafft er dort Inszenierungen, die zu Theaterikonen werden und weltweit auf Festivals zu sehen sind.

Mit seiner Tätigkeit als Theaterregisseur wird Herbert Fritsch zum Bühnenbildner. Gleich zu Beginn seiner Regiekarriere stellt er fest, dass seine Inszenierungen Rauminszenierungen sind und er die Räume stets mitdenkt und gestalten will. Der Erfolg folgt auf den Fuß: 2012 wird er in der Kritikerumfrage der Zeitschrift Theater heute für sein Bühnenbild zur Inszenierung Die (s)panische Fliege zum Bühnenbildner des Jahres gekürt.

Fritsch denkt Theater immer als Bewegung, Klang und Rhythmus im Raum. Die Unterscheidung Theater, Musik-Theater oder Oper findet in seinem Denken nicht statt. Alles ist bei ihm Musik-Theater, alles Oper und am Ende klingende Körper im Raum. Die Körper sind das Zentrum der Theaterarbeit von Herbert Fritsch, auf sie konzentriert er sich: auf alle Komplexe, unterbewusste und bewusste Begierden, auf alle Verkrampfungen und Ekstasen und auf deren Energie. Die Körper verhalten sich zueinander im Fritsch-Raum, der durch die Körper der Schauspieler*innen sichtbar gemacht und vereinnahmt wird. Zirzensisch ist das Theater von Herbert Fritsch, denn die Grundlage all seiner künstlerischen Arbeit ist das Spielen, und seine Begeisterung gehört dem Artistisch-Clownesken ebenso wie der Verzauberung des Publikums. Anders formuliert: Fritschs Theater ist unbedingt unterhaltsam auf hohem Niveau. Fritsch-Schauspieler*innen sind Artist*innen, verausgaben sich, sind mutig, lustig, hochkonzentriert, sind Musiker*innen, Sänger*innen und niemals cool oder lässig.

Herbert Fritschs Regiehandschrift ist geprägt von den Einflüssen der Commedia dell’arte: Die Artistik, die archetypische Figurenkonstellation, die Buntheit der kunstvollen Kostüme, Masken und Bilder entstammen dieser alten Theaterform und sind immer wieder aufs Neue Inspiration für die Theaterarbeit des Regisseurs. Und Herbert Fritsch ist ein spielender Regisseur. Er erklärt nicht, er spielt mit und vor. Herbert Fritsch kennt die Nöte und Sorgen seiner Schauspieler*innen, weil er sie alle schon selbst erlitten und erlebt hat, er denkt seine Inszenierungen von der Bühne aus immer mit dem Ziel, bei jeder Inszenierung eine Wand zu durchbrechen und wieder einen neuen Raum erobert zu haben.

2016 wird die gesamtkünstlerische Leistung von Herbert Fritsch gewürdigt, als er den mit 10.000 Euro dotierten 3sat-Preis beim Berliner Theatertreffen erhält. »Ausgezeichnet wird der Regisseur, Schauspieler, Medienkünstler und Bühnenbildner Herbert Fritsch für seine Gesamtleistung, die den Begriff ›Sensationsdarsteller‹ neu fasst«, begründet die Jury ihre Entscheidung. »Der Bühnenmensch Fritsch, in Rollen vor allem an Frank Castorfs Volksbühne ein herausfordernd unverschämter, spieltoller Extremist, hat als Regisseur zur Form gefunden, die das Anarchische bezwingend komisch bewahrt und ein virtuos rhythmisiertes, elastisches Körper-Sprache-Klang- Erlebnis der kontrollierten Ekstasen schafft: Intensivstation Theater.«

Zur Musik hat Fritsch ebenfalls genaue Vorstellungen, doch noch komponiert er nicht! Im Kontext seiner Theaterinszenierungen arbeitet Herbert Fritsch kontinuierlich mit dem Theatermusikkomponisten Ingo Günther. Die Musik einer Inszenierung wird von Beginn an mit dem Raum mitentwickelt und mitgedacht. In der Konzeptionsphase entsteht die Instrumentierung und ein musikalisches Setting. Das reicht vom klassischen Flügel bis zur Band, vom Orchester bestehend aus elf Klavieren über Marimbaphon oder zum Solo mit elektrischem Milchschäumer. Während der Proben entwickelt sich die Musik und schreibt sich kontinuierlich mit den Schauspieler*innen und Szenen fort.

Herbert Fritsch wächst in den 1960ern und -70ern mit Rockmusik auf, liebt beispielsweise Jimi Hendrix und verehrt Frank Zappa. Oper interessiert ihn brennend, und so beginnt er 2012 mit großer Neugier Opern zu inszenieren: Die Banditen von Jacques Offenbach in Bremen und Péter Eötvös’ Drei Schwestern in Zürich stellen den Auftakt dar. Mozarts Don Giovanni an der Komischen Oper Berlin und Paul Linckes Frau Luna an der Volksbühne folgen. Henry Purcells King Arthur und György Ligetis Le Grand Macabre inszeniert er in Zürich und Luzern, Richard Straussʼ Salome ebenfalls in Luzern und Peter Maxwell Davies’ Mr. Emmet Takes a Walk in Freiburg.

Ohne Titel Nr.1 ist dann seine erste von ihm selbst so bezeichnete Oper, sie hat 2014 in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Premiere. Die Inszenierung kommt – obwohl das Ensemble wortreich kommuniziert – ganz ohne konkrete Sprache aus, das Stück ist eine choreographierte Groteske basierend auf der Musik von Ingo Günther im Fritsch-Bühnenbild: Eine leere Bühne ausgelegt mit einem die gesamte Bühne bedeckenden Bühnentuch mit Holzoptik-Print. Einziges Objekt ist ein gigantisch großes Sofa in der Bühnenmitte, bezogen mit demselben Stoff, auf dem das gesamte Ensemble Platz findet und auf das die Darsteller*innen, wenn ihnen danach ist, von hinten vermittels eines Trampolins springen, sodass einem vom bloßen Zusehen der Angstschweiß auf der Stirn steht. Mit Ohne Titel Nr.1 wird Fritsch zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Insgesamt zehn Mal ist er dort zu Gast, sieben Mal als Regisseur und drei Mal als Schauspieler. Seine Inszenierungen wie Nora oder Ein Puppenhaus, Die (s)panische Fliege, Murmel Murmel oder der die mann sind legendär, nicht zuletzt wegen seiner überwältigenden Bühnenbilder, die stets an Installationen erinnern und Theater und Bildende Kunst verbinden.

Nach bereits drei Inszenierungen am Burgtheater wird Herbert Fritsch mit seinem Barbiere di Siviglia für sich und Wien den nächsten Raum erobern: Die Wiener Staatsoper. Was läge da näher, als mit einem anekdotischen Österreich-Bezug zu enden?

Bei den Wiener Festwochen zeigten wir 2015 Ohne Titel Nr.1 im Burgtheater. Herbert Fritsch war so freudig eregt und voller unbändiger Energie, dass er ins AKH eingeliefert werden musste. Als ich ihn dort wenige Minuten nach seiner Aufnahme und Untersuchung traf, sprach er mit Grabesstimme über sein baldiges Ableben und den Trost, den er hätte, wenigstens in Wien sterben zu dürfen. Als ich ihm sagte, dass die Vorstellung sehr gut angekommen sei und in einer Stunde das Publikumsgespräch beginnen würde, zog er sich an und sagte: »Na dann, hopp, wir müssen!«