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© Peter Mayr
Simon Stone im Arbeitszimmer Alban Bergs (unter einem Foto von Alban Bergs Lehrer Arnold Schönberg)
© Peter Mayr
Simon Stone im Wohnzimmer Alban Bergs
© Peter Mayr
Simon Stone im Arbeitszimmer Alban Bergs

Ein scharfer Blick AUF DIE SOZIALE REALITÄT

Informationen & Karten »Wozzeck«


Dem weltweit gefragten Film-, Theater- und Opernregisseur Simon Stone geht es »um das Erzählen von Geschichten, die ihren Platz in unserer Zeit wiederfinden, die uns in einem Jetzt treffen müssen; die Vermeidung des Musealen ist es, durch die sie, in diesem Moment, der immer unbedingte Gegenwart ist, fühlbar relevant und wiederbelebt werden«, so Dramaturgin Stefanie Hackl über Stones Zugang und Zugriff auf die von ihm interpretierten Stoffe. Nach seiner Traviata-Inszenierung stellt er nun mit dem neuen Wozzeck eine zweite Arbeit an der Wiener Staatsoper vor. Bei einem ausgedehnten Besuch in Alban Bergs letzter Wiener Wohnung gab Simon Stone Einblicke auf seine Sicht dieses Klassikers des frühen 20. Jahrhunderts.


Wenn man sich aufmacht, ein Bühnenwerk zu erarbeiten, ergeben sich mitunter bald mehr Fragen als Antworten. Wie lautet die wesentlichste Frage, die Sie sich beim Wozzeck stellen oder gestellt haben?

Simon Stone: Da sich die Dramaturgie dieser Oper, die dramaturgische Aktion so klar und konsequent zeigt, geht es eher darum, einen Weg zu finden, jene Welt zu umreißen und zu definieren, die Wozzecks Leben bedingt. Durch Büchners extreme Sparsamkeit hinsichtlich der Regieanweisungen – die auch Alban Berg kaum ergänzte – ist die Thematik grundsätzlich universell gehalten. Aus diesem Grund fände ich es auch schade, wenn man die Handlung in der vorgeschlagenen rein militärischen Umgebung beließe. Es wäre viel zu einschränkend und verengt gedacht, all die hier geschilderten Repressionen, Brutalitäten, Missbräuche und Sadismen in die Grenzen eines vergangenen, rein soldatischen Biotops einzuzwängen. Die fatalen Konsequenzen die entstehen, wenn einzelne Personen Macht über andere gewinnen und diese demütigen, sind allgegenwärtig und auf jede Gesellschaft übertragbar. Es gilt stets: Wenn Menschen zu Tieren erniedrigt werden, darf man sich nicht wundern, wenn diese dann auf atavistische, vorzivilisatorische Reaktionsmuster zurückfallen. Es reicht ja oft schon, wenn Ärmere und Schwächere vergessen oder als nicht relevant angesehen werden, um Monster zu kreieren. Nicht umsonst sagt Wozzeck im Gespräch mit dem Hauptmann in der 1. Szene, dass er ein ganz anderes, moralisch integres Leben führen würde, wenn er nicht arm wäre. Leider hat sich an der Aktualität dieses Werkes seit Büchner respektive Berg nichts verändert, da die Kluft zwischen arm und reich trotz allen politischen Veränderungen und Bemühungen bis heute nicht geschlossen werden konnte. Im Gegenteil, in den letzten Jahren hat sie sich erneut vergrößert.


Die Aktualität wird bei Ihnen durch die konkrete Verortung im Wien der Gegenwart zusätzlich unterstrichen.

Simon Stone: Mir ist immer wichtig, Zuschauerinnen und Zuschauern die jeweilige Geschichte in der ihnen bekannten, eigenen Welt zu präsentieren. Im vorliegenden Fall haben sowohl Büchner als auch Berg schon von vornherein viel daran gesetzt, eine aktuelle Realität abzubilden. Es wäre in meinen Augen also falsch, die zeitlose Gültigkeit des Werkes dadurch zu verunklaren, dass man sie in einer Vergangenheit belässt, die uns fremd und nur bedingt erfahrbar ist.


Handelt es sich beim Wozzeck um ein Lehrstück, ein Sozialstück oder geht es um Mitleid, nicht zuletzt um Mitleid mit der Figur des Wozzeck?

Simon Stone: Ich würde eher von einer Dokumentation sprechen – Büchner benutzte ja bekanntlich reale Vorkommnisse, die er dann in diesem Werk verarbeitete. Es wird dem Publikum ganz sachlich vorgeführt, was passieren kann, wenn man Opfer beleidigt und erniedrigt, welche psychischen Mechanismen dann in Kraft treten.


Versteht sich diese Dokumentation bei Ihnen immer als objektive Erzählung oder zeigen Sie die Geschichte aus der Perspektive der handelnden Charaktere?

Simon Stone: Es trifft beides zu. Wir schildern einerseits die Sicht von außen, das Leben des Underdogs Wozzeck, seine Beziehungen zu den anderen Menschen, seine Umgebung, seine Welt und zeigen dadurch, dass man so jemanden jederzeit in der U-Bahn treffen könnte, beim Würstelstand, auf der Straße. Wozzeck geht nach dem Mord an Marie wieder ins Wirtshaus zu Margret, als ob nichts passiert wäre. Wir alle kennen aus den Medien Berichte von Menschen, die jemanden töten und die Leiche dann zum Beispiel Simon Stone im Arbeitszimmer Alban Bergs (unter einem Foto von Alban Bergs Lehrer Arnold Schönberg) 11 wochenlang in einer Wohnung liegen lassen. Solche absonderlichen Personen gibt es, und wer weiß, ob man nicht gerade an so jemanden zufällig vorbeigegangen oder neben so jemandem gesessen ist. Diesen Aspekt aufzuzeigen ist uns sehr wichtig. Andererseits – aufsetzend auf das Expressionistische der Musik Bergs, die das Innenleben und die psychischen Zustände Wozzecks widerspiegelt – wechseln wir immer wieder die Perspektive und werden Teil der Halluzinationen des Titelhelden. Und so veranschaulichen wir, was Wozzeck zusätzlich zu den äußeren und bedingt durch diese äußeren Umstände im Inneren zu schaffen macht.


Inwieweit sind der Hauptmann und der Doktor feststehende Typen, inwieweit sind sie zufällige Personen, die leider zu viel Macht besitzen und diese missbrauchen?

Simon Stone: Vielleicht wollten Büchner und Berg auch etwas über böswillige Beamte und professorale Mediziner sagen. Zugleich zeichnen sie aber gerade diese beiden Charaktere auf gewisse Weise idiosynkratisch. Es ist nicht wie bei Brecht, bei dem eine Figur eine bestimmte Funktion erfüllt, sie sind vielmehr äußerst merkwürdig, Personen, die man ebenfalls unter Umständen aus dem eigenen Leben als Sonderlinge zu kennen meint.


Aber keine Karikaturen?

Simon Stone: Auf keinen Fall – Karikaturen sind lesbar, zeichnen sich durch als bekannt vorausgesetzte, übertrieben dargestellte Eigentümlichkeiten aus. Aber der Hauptmann und der Doktor sind vollkommen ungreifbar und untypisch, von den gegensätzlichsten, unerwartet zutage tretenden Emotionen und Eigenheiten bestimmt.


Das heute leider nach wie vor sehr aktuelle Thema Femizid spielt durch den Mord an Marie in Wozzeck eine zentrale Rolle.

Simon Stone: Diesbezüglich wird ein sehr brennender Themenkomplex angesprochen: Wie oft bemühen Anwälte sogar heute noch das unerträgliche Argument, dass ein durch Eifersucht erfolgter Mord an einer Frau zumindest verstehbar, wenn nicht sogar zum Teil entschuldbar sei, da sie ja den Partner zunächst betrogen hätte. Dass jemand im 21. Jahrhundert so etwas überhaupt zu formulieren wagt, sagt viel über bestimmte Denkweisen über angeblich beleidigten Stolz, verlorene Ehre, verunsicherte Identitäten und ähnlichen Unsinn aus, die wir eigentlich als längst überholt und ad acta gelegt zu haben glauben. Wozzeck ist zweifellos ein vielfaches Opfer. Aber – und das ist wichtig – der Mord an Marie macht ihn zum Täter, und diese Tat ist nicht ableitbar aus seiner Opferrolle! Denn es gibt genügend Menschen in ähnlichen Situationen, die trotzdem nicht gewalttätig werden. Eine wichtige Lektion, die uns durch Büchner und Berg noch einmal eindringlich vorgeführt wird. Davon abgesehen: Seit wann ist Betrug eine Tat, auf die ein Todesurteil steht? Wenn dem so wäre, müsste bei uns wohl die Hälfte der Bevölkerung sterben. Natürlich behandelt Marie Wozzeck nicht gut, natürlich hintergeht sie ihn mit dem Tambourmajor. Aber anders als der Mord durch Wozzeck ist ihre Position sehr wohl nachzuvollziehen: Sie lebt mit einem Mann zusammen, der völlig durchdreht, unentwegt wirres Zeug denkt und spricht. Von ihm abhängig hockt sie tagaus, tagein allein mit einem Kind zu Hause, dem Wozzeck kaum Beachtung schenkt. Diesem perspektivlosen Gefühl des Eingesperrtseins hofft sie zu entfliehen und der Tambourmajor scheint sich dafür als gangbarer Weg anzubieten. Ist es Marie zu verdenken, dass sie frei und eigenbestimmt sein will?


Wozzeck missdeutet also sein Verhältnis zu Marie als gegenseitige Liebesbeziehung

Simon Stone: Dass man sich Zeit lässt und auf einen Partner, eine Partnerin, auf den wahren Einzigen wartet, den man wirklich liebt, ist ein Privileg der behüteten gesellschaftlichen Schichten. Natürlich gibt es auch im Prekariat echte Liebebeziehungen. Aber wenn man nicht weiß, wie man am Ende des Monats die Heizung, die Miete bezahlen soll, ob man genug Geld hat, dem Kind das Notwendigste zu geben, dann nimmt man schnell den Erstbesten, der einem gewisse Sicherheiten bieten kann und verlässt ihn leider auch dann nicht sofort, wenn Gewalt ins Spiel kommt.


Ab wann hat Wozzeck zum ersten Mal den Gedanken, Marie zu töten – denn von einer Affekttat wollen und können wir bewusst nicht ausgehen?

Simon Stone: Ich glaube, dass in seinem Unterbewusstsein schon sehr früh, wahrscheinlich von Anfang an, diese Option existiert. Er ist stets besessen vom Gedanken an den Tod, an Sterblichkeit und Vernichtung, er spricht von Blut, noch ehe er Marie mit dem Messer gegenübertritt. Wozzeck bemerkt offenbar nicht, wie sehr es in ihm arbeitet, dass er die ganze Zeit und nahezu von jedem Menschen heruntergemacht und ausgespottet wird. Wir haben keinen Otello vor uns, der erst durch die Machenschaften eines Jago aus der Spur gebracht wird, es gibt bei Wozzeck keinen Wendepunkt, keine Entwicklung. Er ist von Anfang an geknechtet und seelisch verkrüppelt. Die Entladung passiert einfach in dem Moment, in dem ihm sein Zustand gänzlich bewusst wird. Dieser Moment ist daher rein zufällig und hätte Monate früher oder später genauso passieren können. Aber noch einmal: Das ist keinerlei Entschuldigung für seine Tat. Deswegen ist es so wichtig, wie wir die Kinder erziehen, welches Bild wir ihnen von der Beziehung zwischen zwei Menschen vermitteln – und vorleben.


Nach dem Tod von Marie und Wozzeck bleibt das Kind der beiden als Waise zurück. Ist hier schon ein tragischer Grundstein für den zukünftigen, neuen Wozzeck gelegt?

Simon Stone: Nun, man kann es so lesen, dass das Kind am Ende der Oper tatsächlich schon von den anderen gequält wird und die Demütigungen schon in diesen frühen Jahren beginnen. Was wir auf jeden Fall lernen können: Während wir Erwachsene mit unseren Schwierigkeiten beschäftigt sind, vergessen wir oft auf die Kinder und merken nicht, dass wir sie in unsere Probleme hineinreißen. Andererseits: Das Kind ist jung, und die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Wirklich bedenklich wäre es, wenn es schon an dieser Stelle begänne mehr oder weniger subtile Aggressionen zu entwickeln. Aber davon ist keine Rede. Sein Hopphopp ist eher ein Zeichen der Unschuld.