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© Lukas Gansterer / BÜHNE

Die Ideen, die aus der Spannung entstehen

Karten & Informationen »L'Orfeo«


Du hast Literatur studiert. Wie bist du zum Theater gekommen?
TOM MORRIS Während des Studiums habe ich schon ein wenig Theater gemacht. Ich habe mit ein paar Freunden eine Theatergruppe namens Stage of Fools gegründet und wir haben kleine Stücke aufgeführt, mit denen wir zum Edingburgh Festival und zum Fringe Festival in London eingeladen wurden. Ich habe mich dann aber erst einmal der Akademia zugewandt und eine Dissertation begonnen. Aber das akademische Leben war nicht das richtige für mich, und ich habe die Dissertation dann nicht beendet.

Weil du zugleich schon so viel Theater gemacht hast?
TM Nein, es war etwas anders. In der Universität Cambridge, wo ich studierte, gab es sehr viele Leute, die Theater machten, einige davon sind heute sehr bekannt, wie Sam Mendes. Sie hatten diese Gewissheit über das, was sie taten. Die hatte ich nicht, obwohl ich auch wusste, dass ich Theater machen will. Ich habe mich eher in Richtung Theater geschlängelt, würde ich sagen. Ich habe viel unterrichtet, was mir sehr viel Spaß gemacht hat, und dann habe ich angefangen, über Kunst zu schreiben und Radiosendungen zu machen. Als ich als Journalist Geld verdiente, habe ich angefangen, Theater zu produzieren. In den frühen 1990er Jahren wurde journalistische Arbeit im Vereinigten Königreich recht gut bezahlt. Darum konnte ich es mir leisten, Theateraufführungen zu produzieren. Man muss wissen, dass es in Großbritannien nicht so ein entwickeltes Subventionssystem gibt wie hier in Österreich. Viele Künstler beginnen in der Independentszene oder im Experimentaltheater.

An welcher Art von Orten hast du deine frühen Theatererfahrungen gemacht?
TM An verschiedenen Orten. Ich war zuerst Produzent, ich habe mich also um die Finanzierung der Produktionen gekümmert und dabei auch viel darüber gelernt, wie man Theaterstücke aufführt. Ich habe damals unter anderem organisiert, dass die Tmu-na-Theatergruppe aus Tel Aviv nach Großbritannien kam und ihre Arbeit Real Time zeigte. Diese Art von Arbeit habe ich dann eine Zeit lang gemacht und weiterhin Geld mit Journalismus verdient. Dann beschloss ich, dass ich jetzt eine Art Sprung machen musste. Ich habe mir augerechnet, dass ich in drei oder vier Monaten als Journalist genug Geld verdienen könnte, um ein Jahr lang zu leben, und dann wollte ich mir einen leeren Raum oder einen Schuppen suchen, um Theater zu machen.

Und welchen Schuppen hast du gefunden?
TM Am Ende habe ich den schönsten Schuppen von ganz London gefunden. Ich habe mich als künstlerischer Leiter des Battersea Arts Centre beworben. Was ich nicht wusste war, dass diese Institution so schlecht finanziert war, dass alle Leute, die etwas von der Leitung eines Theaters verstanden und sich beworben hatten, ihre Bewerbungen zurückzogen. Jedenfalls bekam ich schließlich diese Stelle. Und ich hatte großes Glück. Mein Engagement begann 1995, und 1997 gab es in Großbritannien einen Regierungswechsel, und danach wurde zum ersten Mal seit Jahrzehnten in die Kunst investiert. Zwischen 1997 und 2003 wurde das Kunstbudget im Vereinigten Königreich verdoppelt. Das bedeutete, dass ich mich in Stellung bringen und mich um Mittel für das experimentelle Theater bewerben konnte. Wir wollten mit dem Battersea Arts Centre ein Umfeld schaffen, in dem sich verschiedene künstlerische Prozesse und verschiedene Arten des Theatermachens entwickeln konnten. Das war die Idee.

Und für welche Art von Kunst war dieser Raum gedacht?
TM Ich habe versucht, Raum für die Art von Theater zu schaffen, die ich am spannendsten fand. Das war zum Beispiel die Arbeit von Complicité, der Kompanie von Simon McBurney, oder Phelim McDermotts Gruppe Improbable. Viele dieser Ensembles haben ihre Arbeiten aus dem Prozess heraus entwickelt, anstatt mit einem Skript oder Text zu beginnen. Außerdem spielte das körperliche Element oft eine große Rolle, viele der Mitglieder dieser Gruppen kamen aus der Lecoq-Ausbildung in Paris. Gemeinsam war ihnen allen, dass sie die Präsenz des Publikums zelebrierten, statt sich vor ihm zu verstecken. Ich habe auch versucht, dort einen Raum zu schaffen, in dem eine andere Art von Oper stattfinden konnte. Wir hatten eine Saison mit dem Titel »Battersea Arts Center Opera«, die im Wesentlichen versuchte, sich von der Formalität der Mainstream-Oper in Großbritannien zu lösen.

Gab es zu dieser Zeit in Großbritannien eine Tradition experimenteller Operninszenierungen?
TM Ein bisschen schon. Aber eher im Sinn von etwas, das ich als Arthouse-Oper bezeichnen würde. Es gab das English National Opera Studio, an dem eine Menge interessanter Experimente gemacht wurden, aber das hatte keine große Resonanz. Was wir im Battersea Arts Center entwickelt haben, war ein Prozess namens »Scratch Programme«, bei dem sich im Prozess der Aufführung herausstellte, was das Stück sein sollte. Man hatte eine Idee und probierte sie vor einem Publikum aus, und währenddessen fand man heraus, was das Ergebnis sein sollte.

Und das Publikum gab Feedback?
TM Es gab Rückmeldungen und Diskussionen, aber im Wesentlichen geht es doch bei Live-Erlebnissen immer um das Direkte in der Rezeption. Man spürt, ob etwas funktioniert. Bei den Arbeiten, die wir gemacht haben, war alles sehr stark für ein und mit einem Publikum gemacht. Im Opernbereich gab es ein Stück namens Jerry Springer –The Opera. Das begann damit, dass der Komponist Richard Thomas am Klavier saß und dem Publikum erzählte, was er sich vorstellte, und Loré Lixenberg, eine wunderbare Sängerin, sang einige der Arien, die schon fertig waren. Der Komponist versprach allen, die eine gute Idee für das Stück hatten, ein Bier. Er hatte eine Menge Biere auf dem Klavier stehen, die er im Lauf des Abends verteilte. Aus diesen Anfängen entwickelte sich dann eine sehr erfolgreiche Show im West End. Der Prozess, mit dem wir hier arbeiteten, hat sich teilweise aus der Art und Weise entwickelt, wie Stand-Up-Comedy funktioniert: Die Leute treten auf und versuchen etwas, und wenn es funktioniert, funktioniert es, und wenn nicht, dann nicht. Einige der experimentellen Gruppen, etwa Improbable, haben auch gerne etwas vor Publikum ausprobiert, bevor sie selber wussten, was es war.

Ausgehend von dem Hintergrund, den du beschreibst, scheint es fast so, als ob sich die Regie für dich irgendwann ganz zwangsläufig ergeben hätte. Kann man das so sagen?
TM Ja, schon. Ich habe schon als Student manchmal Regie geführt und auch ein wenig geschrieben. Aber dann habe ich in diesem Umfeld angefangen, bei den Projekten Regie zu führen, bei denen ich anderen nicht erklären konnte, warum sie sie produzieren sollten. Einige dieser frühen Experimente begannen tatsächlich im Musiktheater. Zu den ersten Dingen, bei denen ich Regie führte, gehörte ein Stück namens Othello Music. Es gab drei Darsteller auf der Bühne, einen Saxophonisten, einen Schlagzeuger und einen Flötisten. Dann gab es noch ein Streichtrio als Begleitung. Es gab keinen Dialog, es war ein wenig wie ein Stummfilm, mit Titeleinblendungen für jede Szene. Die erste Szene hieß zum Beispiel: Der Soldat erzählt Geschichten und eine junge Frau verliebt sich. Und dann haben wir die Handlung aus der Musik heraus entwickelt, in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Dimitri Smirnoff.

Das klingt, als hättest du einen wirklich guten Ort gehabt, um Dinge auszuprobieren.
TM Ja. Das war die Rolle des Battersea Arts Center in der Londoner Theaterlandschaft: ein Ort, an dem man Dinge ausprobieren konnte. Es wurde allerdings kaum subventioniert. Als wir eröffneten, hatten wir gerade mal genug, um den Raum zu eröffnen, die Einnahmen wurden dann aufgeteilt. Erst ganz am Ende bekamen wir mehr und mehr Zuschüsse und hatten allmählich genug Geld, um auch selbst Künstler zu beauftragen. Davor musste jede Gruppe ihrer Finanzierung selbst organisieren, Anträge stellen und dergleichen. So hat das System in Großbritannien lange Zeit funktioniert.

Du warst von 1995 bis 2004 am Battersea Arts Center, und 2004 wurdest du fester Gastregisseur am National Theatre London – eine Position, die du immer noch innehast. Es scheint, dass du ein Regisseur bist, der gerne für einen längeren Zeitraum mit einem Haus zusammenarbeitet. Geht es dabei auch darum, einen Ort mit der eigenen Arbeit zu prägen? Ist das etwas, was du für das Bristol Old Vic im Sinn hattst, das Theater, dessen künstlerischer Leiter du seit 2009 bist?
TM Alle meine Jobs am Theater waren unterschiedlich. Bei der Arbeit im Battersea Arts Centre ging es vor allem um die organisatorische Leitung. Das Schreiben und die Regie gehörten dazu, aber die Hauptaufgabe bestand darin, zu definieren, was die Aufgabe des Hauses ist, den Raum zu schaffen und eine Kultur des Experiments zu entwickeln. Als ich merkte, dass ich gehen wollte, war in der Theaterszene schon bekannt geworden, was im Battersea Arts Center vor sich ging. Nick Hytner, der gerade das National Theatre übernommen hatte, war auf uns aufmerksam geworden. Was wir am Battersea Arts Center machten, das war ein anderes Theater als das, das er selbst machte und das er kannte. Also lud er mich ein, am National Theatre zu arbeiten, um einige der Künstler und Prozesse aus dem Battersea Arts Centre ans National Theatre zu bringen. Für meine eigene Regiearbeit habe ich dann natürlich auch mit vielen Leuten zusammengearbeitet, die auch im Battersea Arts Centre gearbeitet hatten. Dazu gehörte etwa auch die Handspring Puppet Company aus Südafrika. Und das war eine von vielen Verbindungen, die wichtig wurden, als wir begannen, an War Horse zu arbeiten, der Show, die wir am National Theatre produziert haben und die zu einem internationalen Erfolg wurde.

Du hast schon angesprochen, dass Musik seit langem eine wichtige Rolle in deiner Theaterarbeit spielt. Dennoch ist es etwas anderes, eine Oper oder ein Musiktheaterstück zu inszenieren als ein Schauspielstück. Was bringst du aus deiner Theaterarbeit mit in den Opernprobensaal, und was änderst du vielleicht an deiner Arbeitsweise, wenn du eine Oper erarbeitest?
TM Eigentlich gehe ich genau gleich vor: Ich untersuche die Opernpartitur so, wie ich ein Theaterstück untersuchen würde. Wenn ich mit den Sängerinnen und Sängern über die Musik spreche, dann verwende ich dafür ein dramatisches Modell. Wenn wir sagen, dass es im Drama um einen Konflikt geht, oder um das Wechselspiel zwischen Ziel und Hindernis im dramatischen Sinne, dann wende ich das auf die Musik an: Was sind die musikalischen Mittel, wie ist der Konflikt musikdramaturgisch dargestellt. Und wie können wir das Bild des dramatischen Konfliktes, das wir gefunden haben, mit musikalischer und schauspielerischer Darstellung umsetzen. Das ist es im Grunde. Für mich ist Theater Drama – Konflikt; Erzählung – die Geschichte, zu der die Spannung gehört; und Spektakel – das Spiel, das sind die drei Elemente. In der Oper werden das Drama und die Erzählung von der Musik getragen. In gewisser Weise kann man sagen, die Partitur ist die Wurzel der Aufführung, die Partitur enthält den Konflikt und die Partitur ist auch die Erzählung. Außerdem finde ich es wichtig zu betonen, dass das, was die Menschen sehen, das verändert, was sie hören. Das gilt auch für unsere Arbeit in Orfeo – wir haben heute an einer Szene im vierten Akt gearbeitet, in der Orfeo normalerweise nicht auf der Bühne ist, aber bei uns ist er präsent. Man hört etwas anderes, wenn so eine Änderung vorgenommen wird.

A propos Orfeo: Es war schon lange vor dem Engegement in Wien dein Wunsch, diese Oper zu inszenieren. Warum?
TM Es gibt viele Dinge, die mich daran interessieren. Zunächst der Mythos. Der Kampf mit dem Tod ist den Mythen des Christentums sehr ähnlich, aber für diesen Stoff spielen die Wurzeln der alten animistischen und schamanistischen Kulturen eine Rolle. Wenn man so will, ist für den größten Teil der menschlichen Zivilisation der Tod das einzige Unverhandelbare im Leben, und deshalb interessiert mich dieses Thema. Ich habe Händels Messias inszeniert, der eine Art Orpheus-Geschichte ist. Ich habe Touching the void inszeniert, ein Stück über eine Bergexpedition, das ebenfalls eine Art Orpheus-Geschichte ist. Ich habe Breaking The Waves inszeniert, die Oper nach dem Film von Lars von Trier, die ich in gewisser Weise wie eine Orpheus-Geschichte gelesen habe. Es ist also ein Mythos und ein Thema, zu dem ich immer wieder zurückkomme.

Welche Fragen stellst du an dieses Thema?
TM Es geht um die Macht der menschlichen Vorstellungskraft, darum, was Kreativität ist, und wie sich beides mit der menschlichen Gemeinschaft verbindet. Wie wir auf unvermeidliches Leid oder auf Verlust reagieren. Die extremste Mauer, mit der wir konfrontiert sind, ist der Tod. Ich bin fasziniert von der menschlichen Reaktion darauf, sowohl individuell als auch gemeinschaftlich. Deshalb ist der Chor eine unglaublich wichtige Figur in dieser Oper, als Gemeinschaft, mit der der Einzelne konfrontiert wird. Mein Handwerk als Regisseur ist im Wesentlichen das visuelle Erzählen von Geschichten. Ich suche nach einer Möglichkeit, das Stück so zu gestalten, dass es sich unmittelbar anfühlt und wirklich auf das Libretto und die Partitur reagiert, und ich denke, wenn mir das gelingt, kann das Ergebnis extrem kraftvoll sein. Darin liegt der Reiz. Ich finde, dass es sich bei L’Orfeo um eine sehr tiefgründige Musik handelt, und ich denke, dass viele Inszenierungen die Möglichkeiten einer Erkundung dieser Musik verschenken. Einen Weg zu finden, um zu verstehen und zu erklären, warum wir zum Beispiel plötzlich ein fröhliches Stück Musik an einer Stelle finden, an dem wir ein trauriges erwarten würden. Wenn wir das schaffen, dann wird es sehr interessant, und sehr kraftvoll. Für mich ist es das Aufregendste an dieser Arbeit, der Musik zu folgen und die Geschichten zu erforschen, die in ihr zu finden sind. Dieser gemeinsame Prozess mit dem Dirigenten und den Sängern ist faszinierend.

In der Opernarbeit treffen manchmal scheinbar antagonistische Positionen aufeinander, eine klassische Konstellation ist das Eintreten für die Musik versus das Eintreten für die Inszenierung. Bei der Erkundung der Orfeo-Partitur, die du beschrieben hast, sind wir an Punkte gelangt, an denen es auch um die Frage ging, wie eine bestimmte Stelle mit Blick auf die Inszenierung gesungen werden sollte. Wie hast du diese Arbeit zusammen mit den Sängerinnen und Sängern und dem Dirigenten Pablo Heras-Casado erlebt?
TM Wenn in unserer Arbeit solche Fragen auftauchen, entsteht eine Spannung, und die Spannung ist unheimlich produktiv. Wir haben uns zum Beispiel gerade in der Probe den fünften Akt angeschaut, in dem es am Ende eine Deus- ex-machina-Situation gibt, und es ist schwierig, das dramatisch zu gestalten. Georg Nigl, unser Orfeo, zeigte mir einen sicheren Weg, wie es musikalisch funktionieren kann, aber wir waren nicht sicher, ob es die richtige dramaturgische Lösung wäre. Also bat ich ihn, etwas anderes auszuprobieren, und dann entwickeln wir weiter und versuchen verschiedene Dinge, und plötzlich zeigte er mir etwas, das für mich einen völlig neuen Blick eröffnete. Eine Situation wie diese lebt von der Spannung, sie ist es, aus der Ideen entstehen.

ORFEO
11. (Premiere) / 13. / 16. & 18. Juni 2022
Musikalische Leitung Pablo Heras-Casado
Inszenierung Tom Morris
Bühne & Kostüme Anna Fleischle
Licht James Farncombe
Video Nina Dunn
Choreographie & Bewegungsregie Jane Gibson
Mit u.a. Kate Lindsey / Slávka Zámečníková / Christina Bock – Georg Nigl