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© KimTae-hwan

Die FARBEN einer Jugend

International gleichermaßen für ihre natürliche Musikalität und technische Perfektion gepriesen, erobert die in Korea geborene Dirigentin Eun Sun Kim konsequent die großen Bühnen der Welt: Frankfurt, Berlin, München, Dresden, Madrid, London, Kopenhagen, Stockholm, Macerata, Los Angeles, Washington, Chicago und vor wenigen Wochen ein wahrhaft triumphales Debüt an der Met in New York. Sie ist seit Beginn dieser Saison Musikdirektorin der San Francisco Opera und seit einigen Jahren auch Principal Guest Conductor der Houston Grand Opera und gastiert ebenso regelmäßig mit vielen der bedeutendsten Orchester auf den Konzertpodien der Welt. Eun Sun Kim debütiert nun – an der Spitze einer jungen Sängergeneration – mit Puccinis La bohème am Haus am Ring.
 

Naheliegenderweise hat jeder von uns einen persönlichen Ausgangspunkt seiner oder ihrer künstlerischen Erkundungen – ein Genre, einen Komponisten, ein Vorbild, ein Werk. Wo lag der Kopfbahnhof Ihrer künstlerischen Reise?

Eun Sun Kim: Lustig, dass Sie das fragen! Denn bei mir war es tatsächlich die Bohème, die mir den Weg zum Dirigieren eröffnete. Ich war eine junge Kompositionsstudentin an der Musikuniversität in Seoul, an der alle zwei Jahre eine Opernproduktion herausgebracht wird. Um auch diesen Aspekt des Theaterlebens gut kennenzulernen, übernahm ich bei einer dieser Produktionen die Korrepetition. Nach einer Probe trat einer der Professoren an mich heran und meinte, er habe mich beobachtet und ein Talent erkannt, von dem ich vielleicht noch gar nichts wüsste – nämlich das Dirigieren. Ob ich denn nicht Lust hätte, es einmal zu probieren? Man kann also sagen, dass die Bohème mein Leben verändert und meinen späteren Weg ermöglicht hat. Sie können sich also vorstellen, welche Beziehung ich schon aus diesem Grund zu dieser Oper habe!


Daraus lerne ich, dass Sie als Dirigentin immer auch den Blick der ehemaligen Kompositionsstudentin mitbringen. Was entdeckt diese in der Bohème?

Eun Sun Kim: Sie staunt wie die Dirigentin über die Orchestrierungskunst Puccinis. Wie er die Farben einsetzt, wie er Textabschnitte schattiert, wie jede Rolle ihre Charakteristik bekommt. Man kann sich in diese Kunstfertigkeit, diesen genialen Zug endlos vertiefen.


Dazu kommt, besonders auch beim früheren Puccini, eine Melodientrunkenheit, die er seinen Figuren geschenkt hat.

Eun Sun Kim: Und nicht nur den Figuren! Das Orchester singt ebenfalls, oftmals sogar stimmenparallel zu den Sängerinnen und Sängern, ist also nicht »nur« Begleitung, sondern atmet, eben: singt, mit. In diesem Zusammenhang: Ich erinnere mich an eine Tosca, die ich in Italien dirigierte. Da haben die ansässigen Orchestermusikerin- nen und -musiker nicht nur metaphorisch, sondern tatsächlich mitgesungen. Oftmals sogar laut. Wundervoll! Ein solch direkter Zugang erläutert so Vieles, denn wenn man Puccini richtig singt und spielt, aus dem ganzen Herzen, dann passiert so Vieles ganz automatisch richtig. Da erlebte ich eine Nähe zum Komponisten, wie man sie heute nicht mehr oft findet. Viele der Instrumentalisten sprachen übrigens von Puccini in der »Maestro«-Form, sie sagten also zum Beispiel: »Der Maestro hat diese Stelle so oder so komponiert und gemeint«.
 

Das Ersingen der Musik führt ja auch zu einem ganz organischen Wahrnehmen von Strukturen, zu einem sehr direkten, unverstellten Zugang zu einem Werk.

Eun Sun Kim: Und wenn man mit Text singt, kommt noch ein ganz wichtiger Aspekt ins Spiel: die Sprache. Ich bin ja überzeugt, dass alle Komponisten naheliegenderweise vor allem von der Sprache ausgehen, bewusst oder unbewusst. Natürlich jeder auf seine eigene Art und Weise, aber letztlich liegt der jeweils geschriebenen Musik die eigene Sprache zugrunde. Rhythmus, Tempo, Betonungen, Phrasierung, all das entspringt im Kern dem gesprochenen Wort. Das gilt natürlich umso mehr, wenn es um Oper geht, denn da muss die Interpretation ohnehin von der Sprache ausgehen. Es gibt ja in Wahrheit keine absoluten Werte in Rhythmus und Tempo, also kann es gar nicht anders sein, als dass die Richt- schnur für die Musikinterpretation die sinnvolle Textwiedergabe ist.


Und das gilt auch für die Stellen, in denen die Musik vor der Sprache kam? Berühmtes Beispiel in der Bohème: der Musette-Walzer, den Puccini zunächst ohne Text entwarf.

Eun Sun Kim: Ja, weil er den Walzer nicht außerhalb des Werkkontextes entworfen hat, sondern aus der Figur heraus. Puccini hat die Musik nicht se- pariert, er hat die Musetta in ihrer Gesamtheit vor seinem kompositorischen Auge gehabt und so ist der Walzer entstanden.


Wenn nun diese außergewöhnliche Begabung fürs Orchestrieren das Puccinihafte an sich ist, was ist dann das spezifisch Bohèmehafte?

Eun Sun Kim: Keine leichte Frage! Ich würde sagen: Die frische Energie der Jugend, dieser Aufbruch, der Schwung, dieses Drauflos-Leben der Figuren mit all der gefährlichen Bedenkenlosigkeit. Aber auch die Atmosphäre im 2. Bild, wenn sich die Volksmassen auf der Bühne stauen und der Chor singt. Wenn wir diese Chor-Masse mit jener beim Te Deum in der Tosca vergleichen, ist es doch eine gänzlich andere Welt. In der Bohème gibt es bei aller Tragik die Farbe des Glücks der Jugend, wie Puccini das ja auch selbst in einem Brief beschrieb.


Wie aber bewahren Sie diese Farbe der Jugend ohne Trübungen, wenn Sie doch auch Tosca und andere spätere Puccini-Werke kennen? Als Puc- cini La bohème schrieb wusste er noch nicht, wie Tosca klingen würde, wir allerdings können dieses Wissen kaum ausblenden.

Eun Sun Kim: Das ist ein spannender Themenkomplex, mit dem ich mich vor Kurzem beschäftigt habe. Letzten Sommer war in San Francisco Ernani geplant und ich wurde mit genau dieser Frage konfrontiert: Wir alle kennen den frühen, mittleren und späten Verdi, wir kennen Rigoletto, Traviata, Trovatore, Otello und Falstaff, aber das gab es zum Zeitpunkt der Komposition von Ernani noch nicht. Müssen wir unser Verdi-Verstehen also zurückschrauben? Die Antwort: nein, das müssen wir nicht. Denn durch unser umfassendes, über den damaligen Komponisten hinausgehendes Wissen lernen wir ihn ja nur noch besser, tiefer kennen. Wir verstehen seine Musiksprache besser, und es ist ja immer seine Musik-Sprache, vielleicht mit neuen, anderen Vokabeln, mit anderen Wendungen, aber dieselbe Sprache mit derselben Grammatik. Natürlich: Man muss aufpassen, damit man Bohème aus dem Blickwinkel von 1896, also der Uraufführung sieht und nicht aus einer Turandot-Rückschau. Gerade darum ist die Frische der Bohème ja so wichtig.


Nun gibt es Dirigenten, die Werke zunächst über ihre architektonischen Strukturen zu erfassen versuchen, andere gehen von der Klanglichkeit aus, wiederum andere erstellen sich eine Art musikalisch-topografische Landkarte. Wo setzen Sie an, wenn Sie eine Partitur zum ersten Mal, aber auch zum wiederholten Mal aufschlagen?

Eun Sun Kim: Ich merke, dass das jedes Mal anders ist. Es gibt hier so viel, das mit hineinspielt. Welches Werk? Welcher Komponist? Wie sind die Umstände? Auch: Das erste Mal, oder kenne ich das Werk schon? Ich habe also gar keinen einzigen, keinen immer-richtigen Weg der Annäherung, sondern sehe das sehr situationsabhängig. So wie ich mich ganz allgemein nicht gerne auf einen Pfad, eine Richtung festlegen lassen will. Die meistgestellte Frage lautet ja: »Welcher ist Ihr Lieblingskomponist?« Das kann ich nicht beantworten.


Nicht beantworten, weil es – eben auch – situationsabhängig ist? Oder es nicht nur einen geben kann?

Eun Sun Kim: Ja, aber auch, weil mein Zugang ein ande- rer ist. Ich komme aus Korea, aus einer ganz anderen Kultur als der europäischen. Mir ist aufgefallen, dass es in Europa natürlich so etwas wie Prägungen in Richtung gewisser Komponisten- und Stil-Vorlieben gibt, je nach- dem, woher man kommt. In meinem Fall steht stärker die Universalität der Musiksprache im Vordergrund, weil ich eine – und das ist nicht negativ gemeint – gleiche Distanz zu all dem hatte. Eine Entfernung, die vielleicht spezifische frühe Prägungen verhindert hat.


Mit anderen Worten: Von Korea nach Rom ist es genau so weit wie nach Wien.

Eun Sun Kim: Letztlich: ja. Das heißt nicht, dass ich nicht Vorlieben haben kann. Aber die Konditionierung, die man als Europäerin hat, fand bei mir so nicht statt. Ich sehe das als einen Vorteil, weil mein Blick dadurch sehr offen sein kann. Umso beeindruckender sind für mich die unterschiedlichen Zugänge und Details, die eine Stil-Spezifik ausmachen. Als ich jung war, hat Daniel Barenboim mit mir einmal La Mer von Debussy analysiert und mir anhand dieses Werks Unterschiede der französischen und deutschen Musik dieser Epoche, also zum Beispiel in der Dynamik, Phrasierung, Betonung, erläutert. Ich weiß noch heute, wie fasziniert ich damals war.


Und noch ein Kulturkreis: Sie leiten nicht nur europäische, sondern auch viele US-amerikanische Orchester. Gibt es einen verallgemeinerbaren Unterschied zu europäischen Klangkörpern?

Eun Sun Kim: Abgesehen vom Probenprozess, zu dem es einiges zu sagen gäbe: Ich habe in meiner Arbeit erfahren, dass man in den USA sehr direkt, sehr praktisch arbeitet – und daher in Proben entsprechend formuliert. Man spricht also ganz präzise über die Dynamik oder das Tempo einer Stelle: Das soll so und so sein! In Europa, vor allem im deutschen Sprachraum, vermittelt man Inhalte stärker über Bilder, metaphorisch also. Ein Zugang, den ich übrigens sehr schätze!