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© Christian Kleiner

Die Essenz DER KUNST

Weitere Informationen & Karten »Lady Macbeth von Mzensk«


Sehr gerne würde ich mit einer ganz allgemeinen Frage anfangen. Von Karl Popper gibt es den berühmten Satz: »Alles Leben ist Problemlösen«. Gilt das auch für Dirigentinnen und Dirigenten? Im Sinne von: »Alles Dirigieren ist Problemlösen«?

ALEXANDER SODDY Wenn ich Popper richtig verstehe, meinte er den Satz in Richtung von Versuch und Irrtum – was natürlich auch beim Dirigieren zutreffend ist. Doch haben wir eine besondere Situation, die immer wieder übersehen wird: Ungefähr 90 Prozent unserer Arbeit findet am Schreibtisch statt. In dem Moment, in dem wir eine Partitur aufschlagen, eröffnen wir einen komplexen Prozess: Wir lesen aus den Noten  Informationen heraus, analysieren das Werk, lauschen auf unsere Empfindungen, treffen Entscheidungen, entwickeln Konzepte. Wenn man nun eine Partitur im Laufe der Arbeit immer und immer wieder durchgeht, kommt es gewissermaßen zu einem Versuch-und-Irrtum-Prozess, indem man Überlegungen und Ideen entwickelt, diese aber oft wieder über den Haufen wirft. Das reicht vom kleinsten Detail bis zum großen Bogen. Ich würde also sagen: Dirigieren ist durchaus auch ein Problemlösen, aber dieses muss – zum größten Teil – bereits am Schreibtisch passieren. Ganz besonders dann, wenn man mit den besten Klangkörpern der Welt arbeiten darf, wie es das Orchester der Wiener Staatsoper ist. Denn wenn ich im Orchestergraben stehe, muss ich die zentralen Fragen schon geklärt haben und darf nicht erst mit dem Versuchen und Irren anfangen. Das bedeutet natürlich nicht, dass dann schon alles gelaufen ist. Man wird ja ständig von neuen Impulsen, von der Inspiration der Musikerinnen und Musiker oder vom Orchesterklang beeinflusst und inspiriert. Die verbleibenden zehn Prozent betreffen dann den Akt des Dirigierens an sich. Man ist mit unterschiedlichen Problemen konfrontiert und der Job besteht darin, diese oftmals technischen Herausforderungen zu überwinden: durch Musikalität, Ausdruck und Überzeugung.


Denkt man etwa an Ihre Elektra-Dirigate an der Staatsoper, dann macht die Transparenz, die Sie trotz eines 100köpfigen Orchesters erzeugen können, Staunen. Wie schaffen Sie eine solche Durchsichtigkeit?

AS Ich muss sagen, dass Transparenz für mich zu den größten Prioritäten zählt. Die zentrale Frage für jeden Dirigenten ist und bleibt ja zunächst: Wie macht man die einzelne, unverstärkte menschliche Stimme im Zusammenspiel mit einem Riesenorchester gut hörbar? Zweifellos ein Spagat! Auch wenn wir das immer versuchen, gelingt es mitunter nicht – schon deshalb, weil es Werke und Momente gibt, die die Überwältigung der Sängerinnen und Sänger, aber auch des Publikums durch einen Gesamtklang geradezu konzeptuell vorsehen. Das kann ja auch einen besonderen dramatischen und dramaturgischen Effekt haben. Jedenfalls: Das Wort, das ich im Probenprozess wahrscheinlich am häufigsten verwende, lautet tatsächlich: Transparenz. Darin sehe ich auch eine meiner Hauptaufgaben, nämlich für Klarheit und Durchsichtigkeit zu sorgen. Das Ganze steht und fällt freilich mit der Qualität des Orchesters: all das kann überhaupt nur gelingen, wenn man mit den Besten, wie in Wien, musiziert. Denn um eine so schwierige Partitur leise zu spielen zu können, braucht es eine unglaubliche handwerkliche Beherrschung. Doch das ist ja nicht nur in der Musik so, sondern auch in anderen Disziplinen. Wenn Sie etwa an einen Koch denken: die Kunst besteht doch darin, eine Essenz herauszukristallisieren! Wie erreicht man das in der Musik? Mit einer großen Klarheit im Kopf, einer deutlichen Klangvorstellung, der Fokussierung auf die wesentlichen Elemente, um ein Zuviel an Information zu verhindern. Doch, wie gesagt: Als Dirigent bin ich nur ein Teil des Ganzen, es geht immer auch um die anderen, die Sängerinnen und Sänger und natürlich das Orchester.


Kommen wir zur Lady Macbeth von Mzensk. Sehen Sie eine Traditionslinie, die dieses Werk mit der vorangegangenen russischen Oper verknüpft?

AS Das Großartige bei Schostakowitsch liegt – auch – in seiner unglaublichen stilistischen Flexibilität. Er war so genial, handwerklich so geschickt, dass er jeden Stil, jede Farbschattierung für seine kompositorischen Bedürfnisse heranziehen und einsetzen konnte. So auch das Vergangene, die Traditionen. Ich entdecke unter anderem zwei deutliche Parallelen zu Mussorgski: Das große Lamento der Katerina nach dem – von ihr herbeigeführten – Tod von Boris, bei dem sie den Anschein eines triefen Trauerns erweckt sowie den Schluss, dieses düstere, dunkle, depressive Ende – beides erinnert sehr stark an Boris Godunow. Schostakowitsch zog also, wie viele seiner Kollegen, einzelne Aspekte aus der Operngeschichte heran. Aber wie er mit diesen umging, wie er Elemente einsetzte, Dinge zusammenführte und welche Funktion er musikalischen Momenten gab: das ist dann wiederum ungemein persönlich und spezifisch.


Und kümmert Sie als Dirigent die Aufführungstradition? Interessiert Sie das, was vor Ihnen war? Oder ignorieren Sie bewusst all das, was andere taten, um unbeeinflusst zu bleiben?

AS Es interessiert mich immer, die Aufführungsgeschichte eines Werkes zu betrachten und auch frühere Aufnahmen zu hören – denn es scheint mir sinnvoll, möglichst viele Informationen zu sammeln und Impulse zu bekommen. Daher ziehe ich am Anfang einer Studienphase, wenn ich etwas neu erarbeite, auch bestehende Einspielungen heran. So interessant Traditionen aber auch sind, stellen sich Fragen. Woher kamen sie? Warum halten wir uns eigentlich an sie? Manchmal ist es ja so, dass eine bestimmte Spielweise einen Grund hatte, doch wurde sie im Laufe der Zeit immer extremer – und das birgt natürlich eine Gefahr. Ein kleines Beispiel: Es gibt bei Schostakowitsch Metronomangaben, die in dieser Form gar nicht umsetzbar sind, denn sie vermitteln Tempi, die praktisch unspielbar sind – selbst wenn man bedenkt, dass Schostakowitsch seine eigenen Werke stets besonders rasch interpretierte. Man muss sich beim Studium mit solchen Dingen auseinandersetzen und sie auch hinterfragen. Natürlich wurde ich persönlich zunächst durch die Lady Macbeth-Einspielung von Rostropowitsch geprägt, denn mit ihr bin ich aufgewachsen. Als ich dann Antonio Pappanos Sicht kennen lernen konnte, die ich als Student am Royal Opera House in London live erlebte, beeindruckte mich das ebenso wie auch ganz besonders jene von Kirill Petrenko, dessen Assistent ich drei Jahre in Bayreuth war. Ich bin also durchaus von verschiedensten Interpretations-Traditionen umgeben.


Spannend ist, wie der Komponist die Figuren seiner Oper sah: Im Gegensatz zu vielen Kollegen versuchte er gar nicht, sie objektiv zu sehen, sondern widmete seine ganze Sympathie der Titelfigur.

AS Absolut! Das war, glaube ich, auch einer der zentralen Gründe, warum er in der Prawda so extrem angegriffen wurde: es ging um »Moral«, um seine Einstellung zur Täterin Katerina. Nikolaj Leskow, der die literarische Vorlage schrieb, legt eine sehr viel objektivere Sichtweise vor, er berichtete über die Ereignisse ganz nüchtern. Schostakowitsch hingegen passte die Erzählung durch ein paar wesentliche Eingriffe an, um die Figur der Katerina viel sympathischer zu machen und um Mitleid für sie zu erzeugen. So strich er etwa den vierten Mord, jenen des Kindes, und die anderen Morde werden stets auf die eine oder andere Weise emotional initiiert. Es kommt nicht zu einer kaltblütigen Planung der Verbrechen, sondern sie passieren im Affekt. Immer geht der Tat ein Auslöser voraus, die Gewalttätigkeit etwa, mit der Boris Sergei bestraft, die Erniedrigung, die Katerina am Ende erleiden muss. Schostakowitsch stellt sich hier ganz auf ihre Seite, auf die Seite der Frau, die unterdrückt wird und leidet. Auch musikalisch gibt es keinen Zweifel: der Komponist hebt für Katerina das Schönste, Subjektivste, Emotionalste auf. Man spürt, wie sehr er auf der Seite der Titelfigur ist. Die Groteske bekommen immer die anderen.


Lässt sich aus Ihrer Sicht sagen, was das Fesselnde an Schostakowitschs Musik ist? Was macht ihre Faszinationskraft aus, die sie schon beim ersten Anhören entfaltet?

AS Er hat eine fantastische Direktheit, eine Brillanz, eine rhythmische Eindrücklichkeit, die uns sofort anspricht. Dazu seine Orchestrierungskunst und die ungemeine Wirkung, die seine Musik hat – mitunter mit einfachen Mitteln erzeugt. Um es salopp zu sagen: Oft ist es einfach ein Riesenspaß, denn es ist eine sehr impulsive Musik. Bei Schostakowitsch kommt aber noch eine weitere Ebene dazu. Es gibt eine laufende Diskussion, was er musikalisch mit manchem gemeint haben könnte, denn durch die massive Verfolgung, die er durch das Sowjet-Regime erleiden musste, sucht man in seiner Musik oftmals nach inneren Bedeutungen – ob sie nun immer da sind oder nicht. Ich bin ja nicht immer überzeugt, dass etwas dahinterstecken muss. Musik sollte ja auch für sich selber sprechen können. Aber auch aus diesen beiden Gründen bleibt Schostakowisch ein sehr aktuelles und lebendiges Thema und hat auch heute noch eine besondere Relevanz.


Gerade Lady Macbeth von Mzensk ist von einer unglaublichen Farbigkeit und einem Abwechslungsreichtum gekennzeichnet. Das muss für einen Dirigenten, für Sängerinnen und Sänger und für ein Orchester geradezu ein Paradies sein?

AS Ja, und das sage ich mit einem großen Lächeln. Es ist ein herrliches Stück, wenn auch unglaublich schwierig und komplex. Die Oper ist voller Kontraste, sie bietet eine große Zartheit, andererseits darf man manchmal nicht zu vorsichtig sein: die Musik muss mitunter einfach überwältigen und an die Grenzen gehen. Dieses An-die-Grenzen-Gehen und womöglich das Überschreiten ist dann doch auch eine sehr spannende Sache. Ich freue mich jedenfalls sehr, dass ich die Oper hier an diesem Haus machen darf.



LADY MACBETH VON MZENSK
28. (Wiederaufnahme) / 31. Mai / 3. / 8. / 12. Juni 2023
Dirigent Alexander Soddy
Inszenierung Matthias Hartmann
Mit u.a. Günther Groissböck / Andrei Popov / Aušrinė Stundytė / Dmitry Golovnin



Das Gespräch führte Oliver Láng