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Szenenbild aus Der Rosenkavalier
© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Der Baron Ochs auf Lerchenau – eine seelische Selbsterkundung

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Die Fähigkeit zur Reflexion oder besser Selbstreflexion ist eine der Grundeigenschaften der Marschallin. Niemand sonst aus dem gesamten Rosenkavalier-Personal kann ihr diesbezüglich das Wasser reichen. Am allerwenigsten natürlich Ochs auf Lerchenau, diese fleischgewordene Antithese zur weisen, edlen und wahr liebenden Fürstin Therese von Werdenberg. Anders als die Bühnenfigur muss ich mir als Inter- pret des Ochs aber sehr wohl Gedanken über mein Bühnen-Ich machen, gewissermaßen stellvertretend für ihn die seelische Selbsterkundung durchführen. 

Zunächst sollte ein grundsätzliches Detail geklärt werden: Wie alt ist dieser Baron eigentlich, der frühmorgens und unangekündigt bei der Marschallin hereinplatzt? Nun, glücklicherweise handelt es sich ja um eine Rolle, die der jeweilige Sänger sehr lange in seinem Repertoire behalten kann – eigentlich bis zum Ende der Karriere. Trotzdem würde ich ihn nach der Vitalität und Virilität, die er ausstrahlt, auf zwischen 35 und 45 schätzen. Also nicht viel älter als die Marschallin, die bekanntlich ebenfalls noch eine relativ junge Frau ist.

Manche halten ihn ob seiner Derbheit für dumm, aber das ist er nicht. Auch wenn Ochs unter der oben beschriebenen Selbstreflexionsimpotenz leidet, denkt er – zumindest in vielen Momenten – ganz genau über die Situation nach, in der er sich jeweils befindet. Er weiß schließlich, mit wem er sich einlassen muss, um seine eigene Position zu verbessern, er erkennt beispielsweise die Eitelkeit Faninals und seinen Minderwertigkeitskomplex, keine Standesperson zu sein, weiß also, wo ihn der Schuh drückt, und nützt diesen wunden Punkt strategisch perfekt für sich aus. Dass seine Tochter Sophie Alleinerbin des gewaltigen Vermögens ist und Faninal nicht bei bester Gesundheit, lässt Ochs’ Heiratsmanöver um noch eins gewiefter erscheinen. Freilich: Aus seiner Perspektive ist nichts Verwerfliches an dieser nur oberflächlich kaschierten Erbschleicherei. Durch die Heirat verhilft er Faninal zu dem ersehnten, gesellschaftlich beachtlichen Aufstieg und kann zugleich seine eigene finanziell extrem angeschlagene Lage um 180 Grad ins Positive wenden. Eine Win-win-Situation, würde man heute sagen. Und mit Faninal liegt er hier absolut auf einer Linie. Nur Sophie spielt halt nicht mit. Weil sie liebt, einen anderen, Octavian eben. Übrigens schon wieder etwas, worauf sich Ochs so gar nicht versteht: Lieben. Zumindest verstehen wir gemeinhin etwas anderes darunter als er. Altruistisches ist ihm fremd, Selbstaufgabe und Opfer für jemand anderen zu erbringen, selbstlos für etwas einzustehen, was ihn nicht betrifft, kommt ihm nicht in den Sinn. Er liebt weder Sophie noch das vermeintliche Mariandel, noch all die Frauen, die er früher »erobert« hat und später »erobern« wird. Und gegenüber der Marschallin empfindet er bestenfalls eine verwandtschaftliche Zugehörigkeit. Aber selbst das Verhältnis zu seinem Sohn ist so richtig liebesbefreit. Möglicherweise ist er stolz auf ihn. Allerdings nicht auf dessen Leistungen (die eher beschränkter Natur sind), sondern auf die Tatsache, dass er (überhaupt) einen Sohn zuwege gebracht hat, dessen Ähnlichkeit zu ihm unverkennbar sein soll. Eine seltsame Beziehung, die da zwischen Ochs und seinem Leupold zutage tritt. Nach Vater und Sohn sieht das nicht aus, eher wirken die beiden wie zwei Hinterbänkler in der Schule, die sich an ihren eigenen Scherzen ergötzen. Zwei Lausbuben, jedoch mit einem gehörigen Altersunterschied. Auf jeden Fall hat Ochs in Leupold jemanden, der ihm gehorcht und dem er in einsamen Stunden seine »Weisheiten« anvertrauen kann. Selbstlos sieht anders aus. Dementsprechend kann man von ihm auch keine Gesellschaftskritik erwarten. Dass die Marschallin gewissermaßen ein Veto einlegt und mithilft, die Heiratspläne von Ochs zu vereiteln, hat zunächst mit einer moralischen Entrüstung zu tun, auch Mitleid mit Sophie schwingt mit, in der sie ihr eigenes früheres Schicksal wiedererkennt. Aber daraus leitet sie dann grundsätzliche Fragen über die gesellschaftliche Ordnung ab, die solche arrangierten Ehen überhaupt erst möglich macht. Da schimmert ein Hauch von Beaumarchais durch. Nicht so bei Ochs. Die Vorteile, die ihm die hierarchische Struktur bietet, nimmt er freudig (nicht dankend, denn sie sind ihm selbstverständlich) entgegen, entsprechende Nachteile scheint er nicht zu kennen.

Was er ebenso wenig kennt, ist das Gefühl von Reue. Dass er Unruhe in Faninals und Sophies Leben gebracht hat, wird er ganz rasch vergessen. Allein schon deshalb, weil er damit auch sein persönliches Scheitern, seine Demütigung hinter sich lassen kann. Vielleicht ist es müßig, darüber nachzudenken, wie es mit einer Kunstfigur nach dem Ende der Geschichte weitergeht. Doch rein spekulativ und seiner charakterlichen Struktur folgend, die wir im Laufe der Handlung kennen lernen, würde ich meinen, dass Ochs sich nicht allzu lange enttäuscht zurückziehen wird, sondern sehr rasch einen Plan B bei der Hand hat, um seinem (finanziellen) Glück eine neue Chance zu geben.

Das sind einige meiner Gedanken, aber viel Zusätzliches passiert auf der Bühne darüber hinaus unbewusst und spontan. Als ich zuletzt im April an der Wiener Staatsoper den Ochs sang, sprach mich nach einer der Aufführungen ein treuer, langjähriger Stehplatzbesucher am Bühneneingang an, welche Inszenierung ich denn gerade gespielt hätte, da ihm so vieles ungewohnt vorgekommen sei. Das hat mich ehrlich gesagt nicht wirklich verwundert. Denn obwohl ich in jeder Produktion haargenau darauf achte, die Details einer Regie exakt zu erfüllen, liegt zwischen dem Inszenierungsgerüst – bei diesem Stichwort hat man da zu stehen, bei jenem Stichwort diese Emotion zu transportieren – und der Gesamtheit eines Rollenbildes, das man dem Publikum mitgibt, ein langer Weg. Im Grunde beginnt es schon beim regelmäßigen Studium der Partitur. Als ich 2014 in Salzburg mein Ochs-Debüt gab, hatte ich wirklich versucht, alle Noten exakt so zu singen, wie sie geschrieben stehen, jede Harmonie im Orchester wurde von mir erforscht. Mit den Jahren wird man jedoch selbstbewusster, weiß gerade im Rosenkavalier um die atmosphärischen Absichten von Richard Strauss und kann unterscheiden zwischen dem, was sein muss und dem, was sein kann oder gegebenenfalls anders sein sollte. Andererseits läuft man dadurch auch Gefahr, unbewussten Schlampereien Tür und Tor zu öffnen. Also bedarf es einer steten Reinigung, indem man Seite für Seite das Geschriebene und das Gesungene übereinanderlegt. Dieser Balanceakt zwischen den notwendigen Erfahrungen der allabendlichen Praxis und dem hygienischen Zurückgehen an die Quellen, bringt immer neue, kostbare und unerwartete Wendungen in die abendliche Vorstellung. Vor allem, wenn man sich so gut kennt und intuitiv versteht, wie Musikdirektor Philippe Jordan und ich, entsteht jeden Abend spontan etwas wunderbar Neues. Dazu kommt die Interaktion mit den unterschiedlichsten Kolleginnen und Kollegen, die Verschiedenheit der Inszenierungen aber auch die eigene, sich immer weiter entwickelnde Persönlichkeit, die allesamt weitere Farbnuancen ermöglichen und auch in einer bestehenden Produktion unbekannte Türen öffnen, ohne Essenzielles zu verändern. Gerade beim Rosenkavalier darf man daher nie vergessen, dass es sich um ein Ensemblestück handelt, in dem jeder nur ein Teil des großen Ganzen sein kann.

Ein anderer Besucher fragte mich einmal, ob ich rein theoretisch bereit wäre, den Ochs auch an zwei hintereinanderliegenden Tagen zu singen. Nun, der Köper ist in Ausnahmesituationen zu vielem in der Lage. Aber gerade der Ochs ist in puncto unterschiedlichste Herausforderungen, Länge der Rolle und Stimmhygiene (man denke nur an seine großen Ausbrüche im zweiten Aufzug) nicht eben jene Partie, mit der man ohne ausreichende Regenerationszeit auf die Bühne möchte. Allein die Konversationsstruktur des ersten Aufzuges erinnert an eine permanent sprudelnde Prosecco-Flasche, die vom Sänger höchste Konzentration erfordert. (Ungefähr dieselbe, die notwendig wäre, wenn man sich zum Wahnsinn herabließe, beim Autofahren zur gleichen Zeit zu telefonieren und eine WhatsApp-Nachricht zu schreiben.) Also lieber ein, zwei, drei Tage Pause – man möchte die Aufführung schließlich selbst auch genießen. Zumal in Wien (oder in Salzburg), wo die Wiener Philharmoniker respektive die Musikerinnen und Musiker des Staatsopernorchesters im Graben sitzen, denen der Rosenkavalier (überhaupt Strauss) in die DNA eingeschrieben ist: Da gibt es ein freudvolles Miteinander, einen intensiven Austausch (durchaus garniert mit großer Komik), der die allergrößte Aufmerksamkeit erfordert. Ich bin ehrlich: Ich möchte weder das Publikum noch mich selbst – noch das Orchester enttäuschen!

Text von Günther Groissböck

 

DER ROSENKAVALIER
18. / 22. / 26.* Dezember 2022
Musikalische Leitung Philippe Jordan
Inszenierung Otto Schenk
Mit u.a. KS Krassimira Stoyanova /
Günther Groissböck / Kate Lindsey /
KS Adrian Eröd / Vera-Lotte Boecker /
KS Juan Diego Flórez – Angel Romero* /
Thomas Ebenstein / Monika Bohinec