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»Das Verratene Meer« - STAATSOPER BERAUSCHEND

Kartenkauf → Das Verratene Meer

Zu einer Zeit, da Theater geschlossen und öffentliche Zusammenkünfte verboten sind, scheint es mehr als seltsam, der Premiere von Henzes Das Verratene Meer an der Wiener Staatsoper beizuwohnen.

Das monumentale Haus lässt einige wenige Pressevertreter durch eine Seitentür ein, um eine Vorstellung zu sehen, die im Grunde genommen nur für Live-Stream gedacht ist. Zwei ganze Monate Proben für nur eine Aufführung, und die vor einem leeren Haus. Es sind bittere Zeiten. Angesichts geschlossener Restaurants und Cafés und einer Ausgangssperre ab 20 Uhr, so streng, dass man das Echo der eigenen Schritte in den einst belebtesten Straßen der Stadt hören kann, schockiert es, das vollständige Orchester der Wiener Staatsoper (die Wiener Philharmoniker in ihrer Theatergestalt) größtenteils maskenlos aneinandergedrängt im Orchestergraben zu sehen.

Doch das ist eine Frage der Prioritäten und Möglichkeiten. Trotz eines Infektionsclusters in einer der assoziierten Ausbildungsstätten der Wiener Staatsoper im September hat das Haus seine eigene Blase aufrechterhalten, mit einem strengen Testprogramm und engen Restriktionen für das Leben der Teilnehmer zwischen den Veranstaltungen. Faktisch ist das eine riesige Familie in ihrem eigenen Heim.

Und was für eine laute, gescheite Familie das ist. Das Orchester ist der Protagonist von Henzes oft überarbeiteter Oper aus dem Jahr 1989, einer verkürzten Interpretation von Yukio Mishimas Roman Der Seemann, der die See verriet (1963). Stellen Sie sich Benjamin Brittens Peter Grimes vor, bloß zehnmal grässlicher. Zu Henzes Überarbeitungen zählen die Hinzufügung von Interludien zum Szenenwechsel, bei denen das Orchester Meereslandschaften beschreibt, die roh, brutal und erschreckend wirkungsvoll sind.

Dieselben Adjektive könnten sich auf die kindliche Bande böser Buben beziehen, mit denen Noboru, die zentrale Figur der Oper, seine Freizeit verbringt. Sie sind es, die furchtbare Rache an Noborus zukünftigem Stiefvater Ryuji nehmen werden, weil er sein Leben auf dem Meer aufgibt, um die verwitwete Mutter ihres Freundes zu heiraten— der titelgebende »Verrat«.

Henze macht aus dem 13-jährigen Noburo und seinen gewalttätigen kleinen Freunden Erwachsene, wodurch er den Generationenkonflikt abflacht und die ödipale Besessenheit des Jungen mit seiner Mutter erhöht. Das Regieteam Jossi Wieler und Sergio Morabito hat sowohl Partitur als auch Libretto größte Aufmerksamkeit gewidmet und eine fanatisch detailgetreue, schmerzlich düstere Welt subtiler Untertöne und gar nicht so subtiler Spannungen für die Bühne gestaltet.

Dieser Durchlauf von Henzes selten aufgeführtem Meisterwerk hat einen Schliff, der an Hitchcock erinnert, mit verheerender Wirkung.

Die beiden arbeiten wieder mit Bühnenbildnerin Anna Viebrock zusammen, deren grimmig beredte  Bühnenbilder seit über zwei Jahrzehnten ihre besten Arbeiten geprägt haben. Geschickt hat sie eine Art Pier-Lagerhaus-Fassade kreiert, bei der harte Oberflächen herein und hinaus geschoben werden, um Schlafzimmer, Schiff, Restaurant, Kai und die ganze verwirrende Vielfalt der Kulissen des Librettos in einen einzigen schicksalhaften Raum zu bringen.

Zwischen den schmutzigen Betonmauern ist Josh Lovells schlaksiger Noburo gefangen und wütend. Vera-Lotte Boecker ist eine fragile, verlorene Fusako, die in Vorahnung der Zerstörung verzweifelt zu leben trachtet; Bo Skovhus erscheint als lebenskluger Ryuji, ein robuster Riese in einer Welt böswilliger Feen, der niemals seine eigene zerstörerische Kraft erkennt.

Simone Young, frei von den Zwängen des Ausgleichs einer konventionellen Aufführung, entfesselt die volle Kraft ihres formidablen Orchesters, die Heftigkeit seiner Ausbrüche umso machtvoller durch die straffe Kontrolle. Sie ist grimmig fokussiert und lässt die Darsteller keinen Augenblick lang nachlassen.

Und doch werden die Sänger getragen, niemals übertönt, stets dürfen sie atmen. Die vier »Knaben« von Noburos Bande werden mit demselben Feingefühl behandelt, und alle Mitglieder des Ensembles spielen mit äußerster Sicherheit und Hingabe.

Wegen des Streaming war Applaus verboten, und die Verbeugungen finden in absoluter Stille statt. Ein verstörendes Ende einer zutiefst aufwühlenden Vorstellung. Das volle Haus und der tosende Applaus, den er verdient, würde etwas Katharsis gewähren. Stattdessen umfängt uns die Dunkelheit. Insgesamt ist dies eine außergewöhnliche Leistung in ungewöhnlichen Zeiten. Es fühlt sich berauschend und zugleich falsch an. Streaming ist eine wunderbare Maßnahme zur Überbrückung, aber die Oper braucht ihr Publikum. Möge die Impfung bald und schnell kommen, sodass wir wieder gemeinsam verstört sein können.