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© Elisa Haberer

Beethoven neu gehört

Bevor wir über Fidelio sprechen: Das Beethoven-Jahr hat angefangen, wie haben Sie sich diesem genähert? Ein Durchatmen zuvor?
Tomáš Netopil: Mit Fidelio an der Wiener Staatsoper das Jubiläumsjahr 2020 zu beginnen, ist nicht nur eine besondere Ehre, sondern auch eine Herausforderung! Aber genau genommen fing das Beethoven-Jahr für mich schon am 1. Jänner an, und zwar mit einer Aufführung der 9. Symphonie mit „meinem“ Orchester, also der Philharmonie Essen. Ein musikalisch starker Einstieg! Und, wie es sich bei diesen allerersten Meistern gehört, wird mein Auftrittsplan heuer stark von ihm bestimmt, so dirigiere ich mehrere Beethoven-Symphonien, Klavierkonzerte mit Rudolf Buchbinder und noch etliches mehr. Vor einem solchen Jubiläumsjahr atmet man nicht nur durch, sondern holt auch tief Luft!

Fidelio ist jedenfalls ein Werk mit einer unglaublich dichten Tradition. Abgesehen von den Musikdramen von Wagner gibt es kein anderes Opernwerk, das alleine in Hinblick auf die Fachliteratur so intensiv rezipiert wurde. Aus Sicht des Dirigenten: Ist das eine Bereicherung? Oder ist eine so große Tradition ein schwerer Rucksack?
Tomáš Netopil: Dass es eine so reichhaltige Rezeptionsgeschichte gibt, sowohl musikalisch als auch theoretisch, ist ein klarer Vorteil. Der Rucksack bei Fidelio – der hat im Falle der Urfassung, die wir spielen, eine andere Bedeutung. Es geht eher darum, Abstand von der traditionell gebrachten Version aus 1814 zu gewinnen. Daher war es von Anfang an mein Plan, die bekannte Fassung so schnell und gründlich wie nur möglich zu vergessen und mich dem Fidelio aus 1805 möglichst unbefangen zu nähern. Das betrifft aber nicht nur mich, sondern auch die Musikerinnen und Musiker des Orchesters: sie alle können den Fidelio ja tatsächlich auswendig spielen, gerade da ist es eine Herausforderung, das Bekannte zu vergessen und den Fokus auf die Urfassung zu lenken.

Im Haus am Ring kommt der Fidelio in der 1805er-Version zum ersten Mal zur Aufführung. Bei der Uraufführung hörte man den Vorwurf, dass die Oper zu lang sei. Daher ist die Versuchung, Striche vorzunehmen, gegeben?
Tomáš Netopil: Nein, wir spielen die Oper tatsächlich praktisch komplett ohne Striche und Kürzungen. Also, wenn man die Urfassung schon macht, dann wirklich die ganze Urfassung. Und keine Bearbeitung.

Fidelio hat seine Grundlage in einem französischen Libretto – und der Typus der Rettungsoper, dem Fidelio zuzuzählen ist, ist ja auch eine französische Gattung. Spüren Sie diese Grundierung?
Tomáš Netopil: Es gibt in der Musik Elemente, die eine französische Beeinflussung spüren lassen. Man findet sie z.B. in der Rhythmik, die doppelt-punktierten Noten erinnern uns an einen historischen französischen Ouvertüren-Stil, es gibt klangliche Schattierungen, die französische Wurzeln vermuten lassen. Eine Beeinflussung ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen.

Die 1805er-Fassung unterscheidet sich in vielen kleinen und mittelgroßen Elementen von der 1814er-Fassung. Kann man im großen Überblick das Trennende zusammenfassen?
Tomáš Netopil: Ich würde sagen, dass in der bekannten Endfassung ein Spannungsbogen vom ersten bis zum letzten Moment besteht. Das hat Beethoven, aus der Erfahrung mit den ersten beiden Versionen dieser Oper, genial entworfen. Die Urfassung braucht da etwas mehr Zeit für ihre Entfaltung, sie baut sich dramaturgisch langsamer auf. Aber: Die Musik dieser ersten Version hat ihren eigenen, unvergleichlichen Zauber! Ein kleines Beispiel: Im dritten Akt, vor dem Duett von Leonore und Rocco, arbeitet Beethoven mit dunklen Schattierungen, das Kontrafagott und die tiefen Streicher entwerfen eine Klangwelt, die mysteriös, farbenreich und düster klingt, fast wie eine Filmmusik. Beethoven hat später diese Stelle stark gekürzt, sodass sie nur noch ein kleines Vorspiel darstellt. In der Urfassung gibt es aber 20, 30 Takte mehr – eine ganz eigene, meisterhaft entwickelte Stimmungsszene.

Man wirft dem Fidelio ja gerne vor, dass er aus drei Teilen besteht: Singspiel, dann Oper, dann Kantate. Ist eine solche Teilung in Ihrem Sinne?
Tomáš Netopil: Mit Amélie Niermeyer versuchen wir, gerade diese erwähnte Dreiteilung zu umgehen und das Werk zu einer Einheit verschmelzen zu lassen. Es sind ja auch die Dialogtexte gekürzt bzw. überarbeitet worden und so bekommt die Musik die Möglichkeit, stärker als übergreifender Bogen zu wirken. Mir geht es darum, einen Fluss in die Oper zu bekommen, der durch das ganze Werk strömt und allfällige Abschnitte verschwinden lässt. Ein Werk – und nicht drei Teile, so lautet das musikalische Ziel!

Mahlers Einführung der Leonoren-Ouvertüre vor dem letzten Bild folgen Sie in dieser Fassung nicht?
Tomáš Netopil: Wir spielen die 2. Leonoren-Ouvertüre am Beginn der Oper, die Beethoven ja für diese Version geschrieben hat. Das ist ein so reichhaltiges, großartiges Musikstück mit einer solchen inhärenten Spannungsdramaturgie, dass man nur staunen kann. Zusätzlich noch die 3. Leonoren-Ouvertüre zu spielen braucht es gar nicht mehr.

Nicht nur aufgrund textlicher Verwandtschaften könnte man den Fidelio-Schluss als antizipiertes Chorfinale der 9. Symphonie sehen.
Tomáš Netopil: Das hat etwas für sich. Aber man muss die 9. Symphonie nicht im Hinterkopf haben, um den Fidelio richtig zu hören und zu spielen. Vielleicht ist es sogar besser, wenn man sie musikalisch nicht mitdenkt ...

Im Inszenierungskonzept von Amélie Niermeyer findet die Handlung ab dem Trompetensignal nur noch in der Fantasie von Leonore statt. Bietet Beethoven dafür ein musikalisches Argument?
Tomáš Netopil: Ohne Zweifel! Nach dem Signal schwenkt die Musiksprache in einen Moment fast impressionistischer Zurückgenommenheit. Da wird es sehr leise, die Welt versinkt in ein Pianissimo. Fast unwirklich.

Von Mahler ist eine mit extremen Dynamiken versehene Fidelio-Partitur erhalten. Folgen Sie dieser dramatischen Beethoven-Interpretation?
Tomáš Netopil: Ich würde sagen, dass Beethoven in der ersten Fassung der Oper so großzügig mit fast radikalen Dynamikbezeichnungen umgeht – vom dreifachen Forte bis zum Pianissimo, laufend Sforzati und Fortepiani – und diese auch noch in praktisch jedem Takt vorschreibt, dass es hier einer Erweiterung des dynamischen Raumes gar nicht mehr bedarf ...

Das Gespräch führte Oliver Láng


Fidelio Urfassung (Leonore) | Ludwig van Beethoven
Dirigent: Tomáš Netopil
Regie: Amélie Niermeyer
Textbearbeitung: Moritz Rinke
Bühnenbild: Alexander Müller-Elmau
Kostüme: Annelies Vanlaere
Licht: Gerrit Jurda
Choreographie: Thomas Wilhelm
Dramaturgie: Yvonne Gebauer
Regieassistenz Veronika Sedelmaier
Bühnenbildassistenz: Anna Schöttl
Kostümassistenz: Stephanie Thun-Hohenstein

Leonore: Jennifer Davis
Leonore - die Schauspielerin: Katrin Röver
Florestan: Benjamin Bruns
Rocco: Falk Struckmann
Pizarro: Thomas Johannes Mayer
Don Fernando: Samuel Hasselhorn
Marzelline: Chen Reiss
Jaquino: Jörg Schneider
1. Gefangener: Oleg Zalytskiy
2. Gefangener: Panajotis Pratsos

Premiere: 1. Februar 2020
Reprisen: 5., 8., 11., 14. Februar 2020

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