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Hanna-Elisabeth Müller & Kyle Ketelsen bei der ersten Bühnenprobe zu »Don Giovanni« © Peter Mayr
Hanna-Elisabeth Müller, Kyle Ketelsen & Barrie Kosky bei der ersten Bühnenprobe zu »Don Giovanni« © Peter Mayr

AUS DEM ZERRSPIEGEL

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Wenn am 5. Dezember der neue Don Giovanni seine Premiere feiert, dann ist das auch der Beginn für den neuen Mozart-Da-Ponte-Zyklus, den Regisseur Barrie Kosky und Musikdirektor Philippe Jordan über die nächsten drei Spielzeiten gemeinsam an der Wiener Staatsoper erarbeiten werden. Aber Regisseur Barrie Kosky interessiert sich weniger für den Zyklus als für die drei Stücke, aus denen er sich zusammensetzt: der Zusammenhang, betont Kosky, ergibt sich ja letztlich aus der durch Mozarts Tod viel zu früh geendeten Zusammenarbeit des kongenialen Gespanns. Man kann sich innerhalb des Korpus auf die Suche nach verbindenden thematischen Fäden machen, kann über Liebe, Täuschung, Betrug und Moral vergleichend nachdenken – oder auch über Sexualität, Triebstruktur, Dominanz. Aber letztlich stehen Le nozze di Figaro, Don Giovanni und Così fan tutte in ihrer Stärke jeweils für sich und verlangen, so Kosky, auch ganz unterschiedliche Zug.nge. Und so ist es in erster Linie Don Giovanni, der Barrie Kosky im November 2021 fasziniert und beschäftigt.

Das Etikett der »Oper aller Opern« hat das Werk vom romantischen Dichterkomponisten E.T.A. Hoffmann erhalten. Dass Mozart einen nie dagewesenen Reichtum an Stimmungen, Spannungen, Charakterisierungen, kurz: an Musikdramatik komponiert hatte, darüber bestand schnell Einigkeit. Der Drang, dem Werk, der Figur, dem »Prinzip« Don Giovanni auf den Grund zu kommen, nahm dadurch noch zu, und heute kann Don Giovanni als eine der meistinterpretierten Opern der Musik- und Theatergeschichte bezeichnet werden.

In Wien, das eine von Mozart eigens geschaffene – im Vergleich zur Prager Uraufführung nicht ganz so triumphal aufgenommene und inzwischen kaum mehr vollständig gespielte – »Wiener Fassung« des Werks für sich reklamieren darf, wurde das neue Opernhaus am Ring 1869 mit Don Giovanni eröffnet – in deutscher Sprache, aber ohne den heiteren Schluss nach Don Giovannis Höllenfahrt. Auch Gustav Mahler strich in seiner Einstudierung von 1905 den sextettförmigen Nachruf auf den Uneinsichtigen. Diese interpretatorische Entscheidung war ein besonders wirkungsmächtiger Beitrag zur Arbeit am Mythos dieses Werks, der unter anderem dazu führte, dass ein Strich dieser Szene und damit die Implementierung eines tragischen Endes hartnäckig Mozart selbst zugeschrieben wurde.

In den vergangenen Jahrzehnten veränderte sich der Blickwinkel auf Don Giovanni. Die Befragung des Mythos bedeutet nun auch die Auseinandersetzung damit, wie man mit den gewalttätigen Anteilen des vermeintlich Unwiderstehlichen umzugehen hat, beziehungsweise ob Don Giovanni im Ganzen toxische, gewalttätige Männlichkeit verkörpere, eher als Struktur denn als Figur. Und was das für den Umgang mit Don Giovanni im Repertoire bedeuten würde.

In Barrie Koskys Inszenierung ist die Gewalt allgegenwärtig auf der kahlen, felsigen Fläche, auf der seine Charaktere sich bewegen. Genauso wie die Lust. Die Figur des Don Giovanni beschreibt der Regisseur als »ein Kind von Dionysos« – also jenes Gottes, der für Wein, Theater und Wahnsinn zuständig ist. »Das Kreative ist bei ihm Teil des Destruktiven, und das Destruktive gehört dem Kreativen an«, sagt Kosky über Dionysos, »er kann nur der Schutzpatron von Giovanni sein«. Dabei bedeutet Destruktivität in der Inszenierung oft ganz und gar nicht dasselbe wie Brutalität. Die Feier für das junge Brautpaar Zerlina und Masetto gestaltet Barrie Kosky im Probenraum als ausgelassenes Fest der Liebe für zwei junge Leute, die ihre Begeisterung füreinander nicht verbergen können (und das auch gar nicht wollen). Seinem Hauptdarsteller Kyle Ketelsen erklärt der Regisseur den Impuls, den er bei Don Giovanni angesichts dieser Szene sieht: »Er sieht etwas Schönes und will es zerstören«. Am Ende der intensiven Probe, die folgt, wird eine Szene stehen, in der Don Giovanni ein Zerstörungswerk von formvollendeter Eleganz und Höflichkeit vollbracht hat.

»Ich denke, Charaktere wie Don Giovanni sind wie Spiegel, in denen wir uns sehen«, sagt der Regisseur. »Manchmal wie Zerrspiegel, manchmal wie Spiegel, die zerbrochen sind. Manchmal ist das Bild, das wir dabei sehen, unappetitlich«. Umso interessanter und wichtiger ist es für ihn, sich mit dem Charakter, dem Prinzip, das Don Giovanni verkörpert, auseinanderzusetzen und diese Auseinandersetzung auf der Theaterbühne zu zeigen. »Die Beziehung zu den dunklen und problematischen Seiten wurde immer in der Kunst untersucht. Theater ist insofern ein Safe space, als man dort alles untersuchen kann, was in der realen Welt nicht möglich ist«. 

Bei dieser Untersuchung vertraut der erfahrene Regisseur und Intendant der Komischen Oper Berlin auf die Kraft seines Ensembles: Die Sängerinnen und Sänger müssen in diesem Don Giovanni nicht nur sängerisch, sondern auch darstellerisch auf höchstem Niveau reüssieren. Kosky inszeniert hier gewohnt detailliert, und nicht nur in den Rezitativen, sondern auch und gerade in den Arien und Ensembles erzählt sich die Geschichte aus jenem Zusammenspiel, das die Sängerinnen und Sänger mit dem Regisseur in wochenlanger Probenarbeit entwickelt haben. Und wenn am 5. Dezember in der Staatsoper der Vorhang hochgeht, dann sind sie es, die die Ambivalenzen und Abgründe in Don Giovanni zum Leben erwecken.

Barrie Kosky über… 

… DIE ZUSAMMENARBEIT ZWISCHEN DIRIGENT UND REGISSEUR

Für meine Arbeitsweise ist es besonders wichtig, dass der Dirigent im Proberaum ist. Man kann im Vorfeld viel besprechen und viel diskutieren, aber das ist alles Theorie oder Abstraktion. Die Zeit der Vorbereitung ist nicht die, in der die Arbeit gemacht wird. Und auch nicht die Bühnenproben. Die Inszenierung entsteht im Proberaum, und hier ist die Zusammenarbeit zwischen Dirigent, Regisseur und Ensemble unerlässlich. Manche Stücke kann der Regisseur zur Not auch ohne den Dirigenten erarbeiten. Aber bei Werken von Mozart, Puccini, Janáček ist das unmöglich. Es kommt hier so sehr darauf an, wie man artikuliert, wie man die Tempowechsel inszeniert. Im Fall von Don Giovanni hängt etwa unendlich viel von der Entscheidung ab, mit welcher Emotion artikuliert wird. Wenn hier die Ideen des Dirigenten und des Regisseurs nicht zusammenstimmen, ist es eine Katastrophe. Und ich möchte über solche Entscheidungen nicht im Vorfeld theoretisch sprechen – ich sage immer, Theater ist ein Verb, man muss es machen. Und dann kommentiert man, ob es richtig ist oder nicht. Aber es geht um das Tun. Man macht das Theater. Und ich finde, im Machen, im Proberaum, entwickelt man auch die Beziehung zwischen Regisseur, Dirigent und Darsteller und die Idee von dem, was man machen will. Aber man braucht dafür das Bewusstsein, dass man in einem Boot ist, alle zusammen, und dass alle Ideen beitragen können. Natürlich haben der Dirigent und der Regisseur immer das Recht zu sagen: Nein, diese Idee will ich nicht. Aber ein guter Dirigent und ein guter Regisseur werden wissen, dass von guten Darstellerinnen und Darstellern oft auch sehr gute Ideen kommen und dass man viele Inspirationen bekommen kann. Gute Dirigenten wie Philippe Jordan haben auch diese Flexibilität, mit der sie eine Idee aufnehmen und vielleicht verändern können, so dass sie noch besser wird. Wenn du einen Dirigenten hast, der kein Interesse am Theaterprozess hat, dann kannst du es vergessen. Philippe ist richtig interessiert, und er sagt auch selbst: Ich muss Impulse von der Bühne bekommen. Es gibt keine Trennung zwischen Graben und Bühne.

… DEN EINFLUSS DER BESETZUNG AUF DIE AKTUELLE INSZENIERUNG

Vieles, was wir in der Inszenierung sehen, wurde stark durch das Casting-Konzept beeinflusst, das ich zusammen mit dem Haus entwickelt habe. Kyle Ketelsen ist Anfang fünfzig, Philippe Sly Anfang dreißig. Beide sind unglaubliche Schauspieler. Aus dem Spiel der beiden und den Gesprächen auf der Probe hat sich ergeben, dass die beiden in vielen Szenen eine Art Vater-Sohn-Dynamik entwickeln, die man so aus Don Giovanni sonst nicht kennt. Hanna-Elisabeth Müller sieht in manchen Szenen aus wie ein 18-jähriges Mädchen. Das wirkt ganz anders, als wenn man eine Ältere Sopranistin auf der Bühne hat. Es wird dadurch zum Beispiel glaubhaft, dass Donna Anna noch keine sexuellen Erfahrungen gemacht hat, und das hat wiederum einen großen Einfluss auf die Don-Giovanni-Geschichte, die wir erzählen. Aus der Arbeit mit den Sängerinnen und Sängern im Proberaum entsteht unglaublich viel Entscheidendes für die Inszenierung. Alle, die an einem solchen Prozess beteiligt sind, müssen eine Offenheit mitbringen. Ich sage das auch zu jungen Regisseuren: Wenn du keinen offenen Blick hast für das, was in einem Proberaum passieren kann, dann kannst du keine gute Arbeit leisten. Denn ich bin selbst immer wieder komplett überrascht über das, was in einem Proberaum passieren kann. Dort geschieht die Arbeit, und dort habe ich auch die größte Freude. Und der Proberaum ist nicht dazu da, um meine vorherigen Ideen zu best.tigen. Es geht darum, meine Ideen auszuprobieren wie in einem Labor, alles rauszuschmeißen, was nicht funktioniert, und dafür neue Dinge zu finden. In der Vorbereitung für meine Inszenierung der Dreigroschenoper an der Komischen Oper habe ich viel über Brecht gelesen. Er hat das auch immer gemacht. Er hat immer alle, die im Proberaum waren, gefragt, was sie von dem halten, was sie da sehen, was sie fühlen. Ich denke, das ist wichtig. Ich glaube, dass die Idee eines Auteur-Theaters ein Missverständnis ist. Theater ist kein Film.

DON GIOVANNI

5. (Premiere ohne Publikum / live: Stream und auf .1 / live zeitversetzt: auf ORF III), 13. (Premiere vor Publikum) / 14. / 17. / 20. Dezember 2021

Musikalische Leitung Philippe Jordan
Inszenierung Barrie Kosky
Bühne & Kostüme Katrin Lea Tag
Licht Franck Evin
Dramaturgie Sergio Morabito & Nikolaus Stenitzer

Don Giovanni Kyle Ketelsen
Komtur Ain Anger
Donna Anna Hanna-Elisabeth Müller
Don Ottavio Stanislas de Barbeyrac
Donna Elvira Kate Lindsey
Leporello Philippe Sly
Zerlina Patricia Nolz
Masetto Peter Kellner

Die Produktion Don Giovanni wird gefördert von 

Aufgezeichnet von Nikolaus Stenitzer Bild Peter Mayr