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Auf der anderen Seite

»Abends, will ich schlafen gehn, vierzehn Englein um mich stehn« – mit der schlichten Melodie dieses Gebets beginnt und endet die Oper »Hänsel und Gretel«, und auch im Verlauf der Oper spielt sie eine bedeutende Rolle: Sie dominiert beispielsweise die Ouvertüre, sie kehrt wieder, als die Tochter des Besenbinders dessen Credo zitiert »Wenn die Not aufs Höchste steigt, Gott der Herr die Hand euch reicht« und sie begleitet die um Erlösung bittenden Lebkuchenkinder. Am Ende des zweiten Akts beten die Kinder, die sich im Wald verirrt haben, den Abendsegen mit dem Text, der am Ende etwas irritiert: »Zweie [Engel] die mich weisen, zu Himmels Paradeisen«: Das himmlische Paradies steht doch nur Verstorbenen offen? Geht es in dem Gebet vielleicht gar nicht um den alltäglichen Abend, sondern um den Lebensabend? 

Tatsächlich ist das Gebet in der Überlieferungsgeschichte nicht nur als Abend- sondern auch als Sterbelied verstanden worden. Viele Abendgebete setzten den nächtlichen Schlaf und den Tod gleich und waren so gleichzeitig Sterbegebete – auch im traditionellen christlich-klösterlichen Abendgebet, dem Komplet, wird um »eine ruhige Nacht und ein friedliches Ende« gebetet. Dass Engel den oder die Sterbende umlagern, ist ebenfalls eine traditionelle Vorstellung – so ruft auch Margarethe in Goethes Faust in ihrer Todesstunde aus: »Ihr Engel! Ihr heiligen Scharen, lagert euch umher, mich zu bewahren!« Auch die Zahl von 14 Engeln findet sich in traditionellen Darstellungen von Sterbenden. Aus dieser Tradition also stammt das Abendgebet, mit dem Hänsel und Gretel sich zur Ruhe betten. Erst ab 1808, als Clemens Brentano den Text in seiner Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn unter »Kinderlieder« einordnete und ihm den Titel „Abendgebet“ gab, änderte sich die Interpretation allmählich. Engelbert Humperdinck spricht über das entsprechende musikalische Motiv nur noch als »Schutzengelchoral« oder »Weise der Engel«.

Der »Abendsegen« mit der daraus hervorgehenden Instrumentalmusik teilt die Oper in zwei Teile: In den ersten beiden Akten wird die Geschichte einer armen Familie und ihrer zwei Kinder erzählt, die sich im Wald verirren. Die Darstellung ist naturalistisch; die Hexe ist nur eine Fabelgestalt, von der der angetrunkene Familienvater gehört hat, seltsame Geräusche sind nur Naturlaute aus dem nächtlichen Wald. Erst mit der Erscheinung des Sandmanns beginnt die gewohnte Realität sich aufzulösen. Im dritten Akt erwachen die Kinder in einer anderen Welt: Hier gibt es eine Hexe, in Lebkuchen verwandelte Kinder und so viel Kuchen, dass man buchstäblich ein Haus daraus bauen kann. Sind Hänsel und Gretel damit bereits »auf der anderen Seite«, also im Jenseits oder im Paradies angekommen, haben die Engel sie dorthin geführt? Insbesondere die Variante des Märchens von Ludwig Bechstein, die Engelbert Humperdinck als Grundlage seiner Oper verwendete, legt eine solche Interpretation nahe, wenn man den von ihm verwendeten Wörtern nachlauscht: »Und während die Kinder immerfort aßen und fröhlich waren, richtete die Alte zwei Bettchen zu von feinen Daunenkissen und lilienweißen Linnen, da hinein brachte sie die Kinder zur Ruhe, die meinten im Himmel zu sein, beteten einen frommen Abendsegen und entschliefen alsbald.« Nicht nur erinnern die gemachten Betten an zwei Särge, sondern die Kinder glauben sich sogar im Himmel und »entschliefen«. Der Musikwissenschaftler Hans-Josef Irmen, der sich für diese Interpretation des Märchens stark macht, verweist auf die soziale Realität zur Entstehungszeit: »Hänsel und Gretel droht der Hungertod. Ihre Geschichte ist eine utopische Antwort auf die Soziale Frage. Sie lautet: ›Der Himmel muss helfen, sonst sind wir und unsere Kinder verloren.‹ Da aber nur im Märchen ein Knusperhäuschen erscheint und es Sterntaler regnet, muss man – Gott sei’s geklagt – realistisch von der bitteren Wirklichkeit ausgehen und konstatieren, dass den lieben Kleinen – wie Millionen anderer Kinder – ›Biskuit und Marzipan, Zucker und Milch, Äpfel und Nüsse, und köstlicher Kuchen‹ nur in ihrem Hungerwahnsinnstraum erschienen sind. Denn in der Realität gibt es keinen anderen Schluss: Hänsel und Gretel sind im Wald verhungert.« 

Der ganze dritte Akt nur ein »Hungerwahnsinnstraum«? Die Oper lässt das in der Schwebe, so wie jedes Kunstwerk etwas in der Schwebe lässt. Doch um den Hauch des Todes, der das Abendgebet und die daran anschließende Traumpantomime umweht, kommt wohl keine Aufführung herum. In der Inszenierung von Adrian Noble betreten zwei Kinder die »andere Seite« bereits in der Ouvertüre. Hier ist aber nicht das Jenseits, sondern die Welt von Märchen und Wundern gemeint, die ihr Vater für sie geöffnet hat, als er eine Laterna Magica mitbrachte. Doch auch für Adrian Noble ist die Oper eine Geschichte von »Geburt, Tod und Wiedergeburt«, und der Wendepunkt dieser Geschichte liegt in der Traumpantomime: »Ich denke, dass Hänsel und Gretel vom Jenseits träumen. Um es psychologisch zu sagen: Sie träumen vom Tod. Und durch die Pantomime und das Aufwachen am nächsten Morgen besiegen sie den Tod.«

Ann-Christine Mecke