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© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Wie böse ist Pizarro?

Anlässlich der Erstaufführung der Fidelio-Urfassung an der Wiener Staatsoper führten der Philosoph Konrad Paul Liessmann und der Pizarro-Interpret Thomas Johannes Mayer ein Gespräch über das Böse, über Schuld, Wahrheit und die diesbezügliche Aufgabe der Philosophie, das Eingang in das Programmheft zur Neuproduktion fand. Ein Auszug sei schon hier wiedergegeben.

Gibt es eine allgemeingültige Definition vom Bösen und wäre diese auf Pizarro anwendbar?

Thomas Johannes Mayer: Die Frage nach dem Bösen ist neben der juristischen, vor allem eine moralische Frage und bedeutet implizit, dass ich als Frager davon ausgehe, dass es einen allgemeingültigen Konsens darüber gibt, was das Gute sei. Um diese moralphilosophische Problemstellung, die immer auch ein religiöses Problem mit sich bringt, ohne Nennung spezifisch philosophischer oder religiöser Richtungen abzukürzen, können wir mit Kants kategorischem Imperativ, nach dem man seine Handlungen nur nach derjenigen Maxime ausrichten soll, durch die man wollen kann, dass sie zu einem allgemein gültigen Gesetz werde, sagen, dass im Hinblick auf die Vernunft und den eigenen Erhalt des Selbst, ein dem Menschen gegebenes Urteilsvermögen über Gut und Böse existiert. Wir können in der modernen Hirnforschung inzwischen sogar empirisch beweisen, dass dem Menschen ein „altruistischer Instinkt“ und eine gewisse Tötungsscham in die Wiege gelegt ist. Selbst wenn die vorherrschende Moral jenseitsvon Gut und Böse wäre, würde dieser natürliche Reflex bei entsprechender Sozialisierung greifen.
Was nun Pizarro zum „Bösewicht“ macht? Pizarro, so wie wir ihn in Beethovens Fidelio-Urfassung und auch in der Letztfassung kennenlernen, ist in einer führenden Machtposition in einem Staatsapparat. Die moralische und rechtliche Schuld des Pizarro liegt nach Beethoven darin, dass er nicht nur das Gesetz, das eine rechtm.äßge Verurteilungvon Gefangenen fordert, unterwandert, sondern zudem seine eigenen Interessen über die juristischen Vorgaben des Staates stellt und willkürlich seinen persönlichen Feind und eventuellen Konkurrenten und Kritiker über zwei Jahre gefangen h.ät. Pizarros Schuld liegt hier weniger im moralischen als im strafrechtlichen Bereich. Beethoven, als glühender Verehrer der revolutionären Ideale Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, entwirft also nicht nur eine idealistische Utopie, sondern auch einen rechtskonformen Raum.

Konrad Paul Liessmann: Ob es eine allgemeingültige Definition des Bösen geben kann, ist gar nicht so leicht auszumachen. Das Böse als eigenständige Kraft, als negatives Prinzip, das aus sich heraus motivieren und schaffen kann, ist eine Vorstellung, die zwar in dualistischen, manichäischen Konzepten anzutreffen ist, in der Philosophie aber skeptisch gesehen wird. Das Böse wird meist als Mangel an Gutem interpretiert, als eine Verirrung, Krankheit, als eine Schwäche interpretiert. Für Kant war das Böse kein Prinzip, sondern Ausdruck jener Neigungen und Triebe, jener Lüste und Affekte, die auch vernünftige Wesen daran hindern, der Vernunft, also dem kategorischen Imperativ zu folgen. Das Böse wäre dann schlicht das Unvernünftige. Man hat damit seine eigenen Interessen und seinen Vorteil im Auge, setzt aber voraus, dass die anderen sich sehr wohl an jene Prinzipien halten, die man aus Eigennutz übertritt. Der Dieb setzt voraus, dass die anderen das Eigentum achten, sonst  gäbe es für ihn nichts zu stehlen. Und auch der Dieb bekennt sich im Grunde zum Grundsatz, dass man nicht stehlen soll, d.h. auch er möchte nicht bestohlen werden, aber er macht für sich eine Ausnahme. Die Wurzel des Bösen liegt nach Kant in jedem Versuch, für sich und sein Handeln eine Ausnahme zu beanspruchen. Friedrich Nietzsche war einer der wenigen Philosophen, der dem Bösen eine kreative Kraft zugemutet und deshalb Kant widersprochen hat: Wer stark genug ist, um sich über andere und über allgemeine Prinzipien hinwegzusetzen, der kann es auch tun. Zumindest in der Kunst, da müssen wir Nietzsche wohl Recht geben, liegt die Faszination des Bösen in diesem Anspruch, alle Regeln brechen zu können und aus der Zerstörung Neues entstehen zu lassen. Wirklich böse wäre allein die Destruktion um der Destruktion willen, die Grausamkeit um der Grausamkeit willen. Wir wissen, dass Menschen auch dazu fähig sind. In der Oper gelten Verdis Jago und sein Credo als Inkarnation dieses Bösen. In dieser Radikalität ist Pizarro nicht böse. Ja, er missbraucht sein Amt, um einen Widersacher, der seine Machenschaften aufdecken könnte, zu entfernen. Das ist purer Egoismus, er wird zum potenziellen Mörder aus Sorge um seine Privilegien. Eine politische Alltäglichkeit. Schwerer wiegt, dass Florestan für die Freiheit, also ein Menschenrecht kämpft, das Pizarro – sei es aus persönlichen Gründen, sei es als Agent eines Systems – unterdrücken will. Als Feind der Freiheit und der Wahrheit verkörpert Pizarro so eine prinzipielle Facette des Bösen. Aber was ist Freiheit, was ist Wahrheit? Wie sähen wir die Angelegenheit, wenn der Gefangene ein Terrorist wäre, der nur glaubt, für die Freiheit zu kämpfen? Dennoch: Zum wirklich Bösen fehlt Pizarro die Größe. Er bleibt für mich eine mediokre Figur, machtgierig und rücksichtslos, aber ohne dämonische Aura.

Warum empfinden wir Don Giovanni als weniger böse als Pizarro: Giovanni tötet sogar tatsächlich jemanden …

Thomas Johannes Mayer: Don Giovanni erscheint uns deshalb sympathischer, weil wir uns mit dessen Suche nach Lustgewinn und hedonistischer Ablenkung vom eigenen Leid mehr identifizieren können als mit den niederen Gefühlen von Hass und Neid, die Don Pizarro antreiben. Zudem empfinden wir automatisch ein intuitives Gefühl von Angst, wenn wir daran denken, wie sich der Machtmissbrauch eines Pizarro in der realen Welt auswirken würde. Es ist also nicht die solitäre Handlung, wie etwa das Tötungsdelikt des Don Giovanni, das uns generell Angst macht, sondern es ist ein übergeordnetes, abstraktes Prinzip der gesellschaftlichen Bedrohung, das uns im Innersten unsympathisch ist, da wir uns alle von einem diktatorischen System, wo Machtmissbrauch die Regel wäre, fürchten würden. Außerdem liegt es an der unterschiedlichen kompositorischen Ausarbeitung der Charaktere. Don Giovanni wird von Mozart musikalisch als galanter, facettenreicher und zielgerichteter Liebhaber gezeichnet. Der Charakter des Pizarro hingegen ist musikalisch eindimensional in eine Klangwelt verzweifelter Brutalität gemeißelt. Am besten kann man den Unterschied im Vergleich der Arien „Deh, vieni alla finestra“ des Don Giovanni und die Rachearie „Ha, welch ein Augenblick …“ des Don Pizarro erkennen. Beide Stücke sind in D-Dur und beide sind in der harmonischen Struktur ähnlich, in den ersten Takten sogar gleich. Man stelle sich vor, Pizarro würde seinen Text zu Mozarts Musik singen – was im Übrigen praktisch sehr gut funktioniert; seine Sympathiepunkte würden enorm steigen. Das heißt, auch die Psychologie der Musik, in die der jeweilige Charakter eingebettet ist, entscheidet über die Identifikation beim Publikum.

Konrad Paul Liessmann: Don Giovanni, dieser „Wüstling“, ermordet den Komtur ja nicht, sondern er tötet ihn in einem Kampf, nachdem er angegriffen wurde. Wie berechtigt dieser Angriff war – das hängt davon ab, ob wir in Donna Anna das hilflose Opfer einer aggressiven Verführung oder eine Frau, die Don Giovanni weder widerstehen konnte noch wollte, sehen. Die Oper lässt uns darüber ja im Unklaren. Überdies verkörpert Don Giovanni ein Prinzip, dem Pizarro zuwiderhandelt: Viva la Libertà! Es lebe die Freiheit, bei Don Giovanni natürlich die Freiheit des Begehrens, die Freiheit der Lüste, die unbedingt zur Freiheit schlechthin gehört – auch darauf hat Adorno aufmerksam gemacht. Don Giovanni ist Ausdruck legitimer Sehnsüchte und deshalb lieben wir – so zumindest sah es Sören Kierkegaard – diesen genialen Verführer – ganz im Gegensatz zum egoistischen, feigen und korrupten Pizarro.


Fidelio Urfassung (Leonore)
Premiere: 1. Februar 2020
Reprisen: 5., 8., 11.,
14. Februar 2020

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