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Verdis nie geschriebene Opern

Der Künstler muss in die Zukunft schauen, im Chaos neue Welten sehen; und wenn er auf seinem neuen Weg in der Ferne ein kleines Licht sieht, darf ihn die Dunkelheit, die ihn umgibt, nicht erschrecken: er muss weitergehen, und wenn er auch manchmal stolpert und hinfällt, muss er aufstehen und seinen Weg weiterverfolgen.

(Verdi an Achille Torelli im Dezember 1867)

Leicht hat es sich Giuseppe Verdi bei der Verarbeitung der von ihm vertonten Stoffe nie gemacht. Ganz im Gegenteil, pflasterten doch Umarbeitungen, Bearbeitungen, Neufassungen seinen gesamten schöpferischen Weg. Gestolpert, hingefallen und triumphal aufgestanden ist er bekanntlich immer. Tatsächlich lässt sich spätestens seit den 1840er-Jahren bei all seinen verwirklichten Opernprojekten die umfangreiche Recherche bereits in den Vorbereitungen nachweisen. Fast 30 vollendete Opern, schon zu Uraufführungszeiten begleitet von allen Aufs und Abs einer ganz großen Karriere, beeindrucken den heutigen Rezipienten immer wieder. Umso erstaunlicher offenbart sich die immense Summe qualitativ hochwertigster literarischer Stoffe, mit denen sich Verdi neben der Komposition seiner realisierten Bühnenwerke, sprich neben dem Tagesgeschäft nachweislich intensiv beschäftigte. In einer 1996 veröffentlichten, nicht auf Vollständigkeit abzielenden Analyse der handschriftlichen Quellen durch die US-amerikanische Musikwissenschaftlerin Roberta Montemorra Marvin finden sich gar 86 Werke der Weltliteratur, Dramen ebenso wie Romane, die den Komponisten über die Jahre bzw. Jahrzehnte begleiteten. Wenn in Folge einige wenige der geplanten Projekte zu Theaterstücken des von ihm verehrten Shakespeare oder des österreichischen Dramatikers Grillparzer beleuchtet werden, darf die Vielzahl an anderen, von Verdi und seinen Librettisten in Betracht gezogenen Spitzenstoffen nicht außer Acht gelassen werden. An dieser Stelle seien rein exemplarisch aufgezählt: Neben Byrons vertontem Corsair und den Two Foscari bewegte ihn ebenso des Dichters Cain und The bride of Abydos. Während alle von ihm studierten Dramen Schillers Eingang in sein Opern-OEuvre fanden (Giovanna d’Arco, I mas nadieri, Luisa Miller, zum Teil La forza del destino sowie Don Carlos), ließen sich gerade zwei Werke des von ihm über alle Maßen geschätzten französischen Dichters Victor Hugo vertonen. Der Hernani wurde 1844 zu ErnaniLe roi s’amuse fand 1851 in Rigoletto Eingang. Demgegenüber stehen drei weitere bedeutende Werke Hugos, die Verdi für eine mögliche Vertonung erfolglos zu entdecken suchte: Cromwell, Marion Delorme und Ruy Blas. Abbé Prévosts berühmte Manon Lescaut war ihm auch vertraut wie Molières Tartuffe, Racines Phèdre oder Sir Walter Scotts Kenilworth. Die Kernfrage, die sich stellt: Weshalb investierte der vielbeschäftigte Komponist derart viel Energie in scheinbar unergiebige Projekte?

Oper schreiben für Sänger

„Der Meister beschäftigt sich mit dem Libretto für Florenz; es gibt drei Möglichkeiten: Die AhnfrauI masnadieri und Macbeth. Er wird die Ahnfrau auswählen, wenn er Fraschini bekommen kann [den Sänger, für den er die Rolle des Jaromir in einer möglichen Ahnfrau-Vertonung plante]; sollten sie ihm statt Fraschini den Moriani geben, wird es Macbeth […]“

(Emanuele Muzio an Verdis Schwiegervater Antonio Barezzi)

Welch normative Kraft des Faktischen: Die ideale Besetzung war ebenso eines seiner Spezialrezepte, die am jeweiligen Aufführungsort (sprich Auftrag gebendes Theater) vorhandenen Sänger waren für Verdi das Um und Auf zum Erfolg der Oper. Aus der immensen italienischen Operntradition kommend, wusste er um die Wirkung der passenden Stimmen – und zögerte keinesfalls, sich den örtlichen Gegebenheiten jeweils anzupassen. Hier liegt ein erstes Mal auf der Hand, dass er eine Vielzahl an Stoffen in petto haben musste, um situationselastisch agieren zu können. Legt man nach ersten verworrenen Wegen (auf den erfolgreichen Oberto von 1838 inklusive zahlreicher Neuversionen dauerte es nach dem Desaster von Un giorno di regno 1840 achtzehn Monate bis zu dem immensen Erfolg des Nabucco ab März 1842) die mittlere Schaffensperiode von 1842 (Nabucco) bis 1853 (La traviata) aus, schuf Verdi in diesen elf Jahren 16 Opern. Ein Ausbrechen aus diesem System des Vielschreiben-Müssens im Sinne eines freien Komponierens ohne Blick auf Termine, gelang erst nach und nach dank der fortschreitenden finanziellen Unabhängigkeit Verdis.

Eine Ahnfrau für Verdi

Wien 1875, dreißig Jahre nach Macbeth. „Dass Grillparzer diese Dekoration erhielt, macht sie für mich umso wertvoller“, so Verdi in einem überlieferten Interview (Juni 1875 in Wien abgedruckt, die italienische Übersetzung erschien im Juli 1875 in Mailand) zu einem Journalisten seiner Zeit. Die Rede war vom Franz-Joseph-Orden mit dem Stern, den Österreichs Kaiser dem Komponisten während seines Wien-Aufenthalts verlieh. Ganz Wien war ob der Anwesenheit des ersten Komponisten Italiens in heller Aufregung, selbst Intimfeind Eduard Hanslick wusste viel Gutes über die Dirigate Giuseppe Verdis an der Hofoper zu berichten. Seine Visite in der Residenz ging am 24. Juni 1875 mit einer Privataudienz in Begleitung von Verleger Ricordi (der sich, so das Wiener Fremdenblatt der Tage, mit den Tantiemen zu den vier Konzerten der Messa da Requiem sowie zwei szenischen Aufführungen von Aida, allesamt im jungen Haus am Ring, eine goldene Nase verdient hatte) bei Franz Joseph I. zu Ende. Die Werke Franz Grillparzers waren Verdi ein Begriff. Nicht zuletzt, da er sich spätestens ab 1846 nachweislich intensiv mit dessen Ahnfrau auseinandersetzte und sie immer wieder als möglichen Opernplan in Diskussionen einfließen ließ. Dennoch, so der Komponist in zitiertem Interview weiter, musste er von dem Drama Abstand nehmen, da es zu viel Romantizismus aufkommen ließ. Und das – „serait quelque chose pour L’Ambigu ou pour la Porte Saint-Martin.“ (Dieser Satz ist ausschließlich auf Französisch tradiert, angesichts der Thematik ein logischer Kunstgriff: Grillparzers Drama war seiner abschließenden Meinung nach somit eher etwas für das Pariser Théâtre l’Ambigu, das für seine Opéra Comique berühmt war, ebenso wie das Théâtre de la Porte Saint-Martin im 10. Pariser Arrondisement.)

Was als biographische Glosse wirkt, bringt eine der wesentlichen Intentionen des Tonkünstlers bei der Stoffauswahl zu seinen Werken zum Vorschein: Grillparzer im Allgemeinen und die Ahnfrau im Speziellen verkörperte den von Verdi begehrten urromantischen Werkstil, der seine Begeisterung hervorrief und ihn zu ersten Entwürfen bewegte. Ein Blick auf die Vorlagen macht deutlich, dass Verdi romantische Dramen, die am besten in früheren Zeiten beheimatet waren und nach Möglichkeit ihren Wert als Sprechdramen bereits bewiesen hatten, favorisierte. Doch, und das gestand er ja in der Unterredung im Juni 1875, wurden seine Wünsche – etwa das zumindest konkret aufgeworfene Verwirklichen der Ahnfrau – durch genaueres Erfassen aller Umstände in dem jeweiligen Theater oftmals zunichte gemacht. Verdi wusste neben der bereits erwähnten Kenntnis zu stimmlichen Lokalvorlieben, gleichsam wie die fachkundigen Zeitgenossen, eine Oper den örtlichen Usancen anzupassen. Dies umfasste auch die kraftintensive Absprache mit den über Gedeih und Verderb des Buches entscheidenden Zensurbehörden. Über allem stand für den zeitökonomisch effizienten Künstler die Frage, ob sich dieses oder jenes Drama tatsächlich auf der Opernebene, sprich in Aufbau und Durchführung der Musiktheaterbühne angepasst, verwirklichen lässt? So legte er Die Ahnfrau während seiner Studien zu Neuproduktionen immer wieder zur Seite.

„… dass ich Shakespeare nicht kenne – nein, bei Gott, nein …“

Die intensivste emotionelle Bindung verspürte Verdi zu William Shakespeares Schaffen. Betrachtete der Komponist das dramatische Gesamtkunstwerk Oper als seine Disziplin, erfüllten die Verse des Briten für ihn das Ideal des Schauspiels, das ein ähnliches Welttheater wie das seine suchte und dabei mit dem gesamten Spektrum menschlicher Gefühle und Schwächen operierte. Wobei Verdi zu seiner Zeit nie mit den englischen Originalen arbeitete, sondern ihm soeben angefertigte, teils recht frei bearbeitete Übersetzungen italienischer Zeitgenossen zur Verfügung standen.

So äußerte sich der Komponist unmittelbar auf die Kritik an der 1865 in Paris herausgebrachten Revision des Macbeth in einem Brief an seinen französischen Verleger Léon Escudier: „Es mag sein, dass ich den Macbeth nicht richtig wiedergegeben habe, aber dass ich Shakespeare nicht kenne, nicht verstehe und nicht empfinde, nein; bei Gott, nein. Er ist einer meiner Lieblingsdichter, den ich seit meiner frühesten Jugend in der Hand gehabt habe und den ich ständig lese und immer wieder aufs Neue lese.“ Tatsächlich fiel bereits Giuseppe Verdis Jugend in eine Zeit der Shakespeare- Renaissance in Italien. Bis Ende des 18. Jahrhunderts waren die Werke des Engländers auf der Apenninenhalbinsel weithin unbekannt und wurden nun – in Zeiten der überall in Europa genossenen, tiefen Affektenlehre der Romantik – zum erklärten Vorbild vieler literarischer Gruppen und Bewegungen. Verdis Herz gehörte Heinrich IV. ebenso wie dem Othello, den Merry Widows of Windsor zu gleichen Maßen wie Hamlet, Romeo and Juliet, The Tempest und besonders King Lear.

„Es wäre mir sehr lieb gewesen, meinen Namen mit dem Deinen zusammenzutun, da ich überzeugt bin, dass, wenn Du mir Amleto zur Vertonung vorschlägst, es eine Fassung sein wird, die Deiner würdig ist. Leider benötigen diese großen Sujets zu viel Zeit und ich musste für den Moment auch auf den Re Lear verzichten, gab aber Cammarano den Auftrag, das Drama für einen besser geeigneten Zeitpunkt zu bearbeiten. Wenn schon Re Lear schwierig ist, so ist es Amleto noch mehr; und zeitlich gedrängt, wie ich bin durch zwei Arbeiten, musste ich leichtere und kürzere Sujets wählen, um meinen Verpflichtungen nachzukommen.“

(Verdi an den Shakespeare-Übersetzer und Freund Giulio Carcano)

Bezeichnend bleibt, dass speziell der Lear in all seiner Komplexität Verdi 50 (fünfzig!) Jahre begleitete. Immer wieder nahm er ihn aus dem Schreibtisch, arbeitete am Textbuch von Cammarano weiter und legte ihn wieder zurück in die Schublade. Und das, obwohl andere Stücke von Shakespeare die musiktheatralische Beliebtheitsskala anführten: The Tempest (dieses Sujet sprach Verdi weniger an, doch bezüglich Mitbewerb führt es mit 46 Überlieferungen den Reigen an – vor allem im deutschsprachigen Raum von Hoffmeister bis Reichardt, vom Schiffbruch zur Zauberinsel), A Midsummer night’s dream (39mal vertont) und der populäre Hamlet (der dänische Prinz liegt uns heute in mindestens 32 Vertonungen vor) blieben dem Komponisten vergleichsweise fremde Themen. King Lear, das war sein erklärter Liebling, oder vielleicht auch das Stiefkind, das die meiste Zeit als Libretto-Fragment in der Schublade vor sich hin darben musste. Bereits 1843 – also vier Jahre vor Macbeth – brachte er Shakespeares tragische Königsgestalt erstmals ins Spiel, noch dazu fürs La Fenice: „ …hätte ich zum Beispiel einen Künstler mit der Kraft eines Ronconi, dann würde ich Re Lear oder Il corsaro wählen, doch da es wahrscheinlich vorteilhaft sein wird, sich auf die Primadonna zu stützen, könnte ich mich vielleicht entweder für die Fidanzata d’Abido oder für etwas anderes entscheiden, bei dem die Primadonna die Hauptperson ist.“ 1844 ging stattdessen Ernani in Venedig über die Bühne.

Bereits 1845 versuchte es Verdi abermals mit dem Lear: Mit einer Uraufführung fürs Londoner Covent Garden betraut, war die Idee des englischen Königs auf der englischen Bühne verlockend. Schlussendlich ließen sich Schillers Räuber als I masnadieri rascher und simpler verwirklichen.

Scheitern eines Opernstoffes? Nicht unbedingt. Angesichts der komplexen Werkgenesen bei Verdi lässt sich viel mehr von einer zutiefst kritischen, reflektierten Zugangsweise sprechen – immer im Blick auf vorherrschende Zeitökonomie, bewusst gemachte Gegebenheiten, versehen mit verhandlungstechnischem Geschick und Rücksichtnahme auf politische Umstände. Giuseppe Verdi musste bei all seiner Produktivität sein Tun immer fokussieren – den Blick auf das bereichernde Rundherum hat er nie verloren. Getreu dem Motto „Der Weg ist das Ziel“.


Daniel Wagner studierte an der Wiener Musikuniversität Klavier und an der Universität Wien Rechtswissenschaften, Musikwissenschaft und Kunstgeschichte. Schon während des Studiums Kulturjournalist (u.a. Fono Forum, Wiener Zeitung). Nach Jahren im Rundfunk (radio klassik Stephansdom) nun Geschäftsführungsassistent im Medienhaus der Erzdiözese Wien. Er hält regelmäßig Vorträge und wirkt nach wie vor als Rezensent für die Wiener Zeitung.