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© Didier Olivre

Mit 200% die Kurven kratzen

Nach einer Carmen-Serie im Jänner leitet der aus Korsika stammende Dirigent Jean-Christophe Spinosi im Februar die beiden Rossini-Opern Il barbiere di Siviglia und La cenerentola. International konnte sich der energiesprühende Dirigent mit einem breiten Werkekanon einen Namen machen und wird im kommenden Sommer mit einer weiteren Rossini-Oper bei den Salzburger Festspielen zu hören sein.

Der Barbier kam 1816 zur Uraufführung, Cenerentola ein Jahr später – inwieweit ist hier eine kompositorische Entwicklung erkennbar?

Jean-Christophe Spinosi: Natürlich gibt es eine Entwicklung, die vor allem die harmonische Struktur betrifft. Aber das Faszinierende an Rossini insgesamt ist – und das ist auch eines der Anzeichen des Genies – dass er trotz aller Weiterentwicklung immer bestimmte Charakteristika beibehält, die ihn eindeutig als Rossini ausweisen. Seine deutlich später entstandene vorletzte Oper, Le comte Ory, ist beispielsweise von der gesamten Struktur her anders geartet – so ist etwa die Ouvertüre direkt mit der Handlung verwoben, was weder beim Barbiere noch bei der Cenerentola der Fall ist. Aber auch hier gilt: ein eindeutiger Rossini. Manchmal sind es nur winzige Details die er verändert oder weiterentwickelt, die aber sehr viel bewirken. So übernimmt er immer wieder Themen aus einer Buffo-Oper in eine Seria-Oper und es gelingt ihm durch ganz kleine Retuschen das besagte Thema so umzugestalten, dass es optimal in die neue dramaturgische Umgebung, in die neue klangliche Farbigkeit passt. Was mich also interessiert, ist weniger die Weiterentwicklung von Stück zu Stück, sondern vielmehr diese unglaubliche Fähigkeit der Umfärbung. Jeder kennt diese Doppelbildrätsel in den Zeitungen, bei denen sich zwei scheinbar gleiche Bilder durch zehn kleine Abweichungen voneinander unterscheiden – man braucht ein bisschen Übung, um sie alle zu finden. So ähnlich muss man sich die besagte Situation bei Rossini vorstellen: Ich bin also stets auf der Suche nach diesen Abweichungen, die zum Beispiel aus einer Musik für eine Komödie eine Musik für eine Tragödie werden lassen.

Sowohl im Barbiere als auch in der Cenerentola findet sich im zweiten Akt eine Gewittermusik, ein rein orchestrales Zwischenspiel. War das Konvention?

Jean-Christophe Spinosi: Ja und nein. Es gab eine entsprechende Konvention, aber Rossini hat sie gewissermaßen neu erfunden. Genau genommen folgt ja jede einzelne Oper mehr oder weniger irgendwelchen Konventionen. Auch die Arie der Berta im Barbiere ist Konvention und für den Handlungsverlauf vollkommen überflüssig, genauso wie ein italienisches Eis für das eigentliche Leben überflüssig ist. Aber wenn es gut gemacht ist, erfreut es unser Dasein. Das Zwischenspiel oder das Vorspiel in der Carmen sind Konvention – aber man vergisst diesen Umstand, weil sie Atmosphäre vermitteln, in die Handlung hineinziehen. Komponieren konnten und können viele, die Herausforderung für ein Genie ist es, Konventionen mit Außergewöhnlichkeiten aufzufüllen.

War das Gewitter in Beethovens Pastorale Modell für die Gewittermusik in der Cenerentola?

Jean-Christophe Spinosi: Da ist eine absolute Verwandtschaft spürbar. Es reicht, wenn der Dirigent der Cenerentola an der betreffenden Gewitterstelle einfach „Beethoven“ sagt und die Musiker wissen, was zu tun ist. Diese offensichtliche Ähnlichkeit hat mich dazu bewogen Konzertprogramme zu machen, in denen Rossini und Beethoven einander gegenüber gestellt wurden. Was soll ich sagen? Diese Gegenüberstellung hat Rossini gar nicht gut getan, eine Verwandtschaft schien plötzlich unmöglich und Rossini wirkte armselig. Nicht, weil er schlechtere Musik geschrieben hat, sondern weil die Zielrichtung der beiden eine gänzlich andere war. Beethoven steuerte den Himmel an, Rossini hat bodenständig Themen wie das alltägliche Leben, Sex, einfache Intrigen behandelt. Das verträgt sich nicht, so ähnlich die beiden aus der Ferne auch zu sein scheinen.

Rossini wurde zu Lebzeiten oft als deutscher Komponist apostrophiert. Warum?

Jean-Christophe Spinosi: Für einen italienischen Komponisten hat er zum Teil sehr metrisch geschrieben, fast karikaturhaft überzeichnet. Damit war er sogar deutscher als so mancher seiner deutschsprachigen Kollegen. Bei Mozart ist es zum Beispiel gestattet am Ende von manchen Phrasen oder Kadenzen kleine agogische Rückungen vorzunehmen, um der meisterhaften Darstellung des menschlichen Affektes Raum zu geben. In den großen Rossini’schen Crescendo- Passagen wäre nichts falscher als das. Da darf es kein Ritenuto, keinen Tempowechsel geben, jeder Schlag muss exakt kommen, ja diese Schläge müssen wie das Gitter eines Gefängnisses empfunden werden – dadurch ballt sich eine enorme Energie zusammen, die den wesentlichen Teil der Wirkung ausmacht. Geben Sie im Tempo nur ein klein wenig nach, zerstören sie die Struktur und alles fällt in sich zusammen.

Neben dem Barockrepertoire dirigieren Sie auch sehr viel Rossini – ist das beabsichtigt oder Zufall?

Jean-Christophe Spinosi: Um diese Frage zu beantworten, muss ich etwas ausholen. Ich bin ausgebildeter Geiger und Dirigent und habe natürlich das gesamte gängige Repertoire nicht nur studiert, sondern teilweise auch aufgeführt. Vor ca. 20 Jahren begann ich mich aber für Vivaldi zu interessieren, vor allem für einige seiner Opern, die nur als Handschrift vorlagen und bis dahin kaum komplett eingespielt noch in der jüngeren Vergangenheit adäquat aufgeführt worden waren. Zumindest eine Partitur, jene von Orlando furioso steht qualitativ definitiv auf demselben Niveau wie die besten Händel-Opern. Als dann das Label Naïve mir anbot, mehrere dieser Werke einzuspielen – noch dazu mit einer tollen Besetzung – habe ich natürlich zugestimmt. In der Folge verpasste mir dieses Projekt das Pickerl eines Barockspezialisten. In Wahrheit bin ich alles andere als ein Spezialist. Wenn mich aber ein Komponist interessiert, möchte ich nicht nur ein oder zwei Werke von ihm machen, sondern gleich eine ganze Reihe, einfach, um die jeweilige Welt zu verstehen. Bei Rossini war das nicht anders.

Wonach bestimmen Sie die Tempodramaturgie in einem Barbiere, einer Cenerentola?

Jean-Christophe Spinosi: Genau genommen funktioniert die Tempowahl bei den italienischen Rossini-Opern, vor allem hinsichtlich der Koloraturen, nach denselben Mechanismen wie bei Händel und Vivaldi. Das ist Punkt eins. Bei Punkt zwei geht es um die Frage, wie ich möglichst viel Spannung erzeuge. Heute spielen sehr viele Geiger die einstmals als unspielbar geltenden Stücke von Paganini in einer Perfektion, die selbst Paganini wahrscheinlich nie erreicht hat. Trotzdem wirken diese heutigen Interpretationen meist langweilig. Warum? Weil durch den heute hohen technischen Standard bereits mit einem achtzigprozentigen Einsatz das gewünschte Ergebnis erreicht wird. Das Publikum wird aber nur berührt, wenn es spürt, dass der Interpret zwischen Leben und Tod steht und mit zweihundertprozentigem Einsatz versucht, die Kurven zu kratzen. Das heißt umgelegt auf unserem Fall: Ich muss bei den schnellen Passagen versuchen, ein Tempo zu wählen, dass die Sänger gerade noch bewältigen können, ein Tempo, das sie an die Grenzen führt. Bei manchen langsamen Passagen hingegen, vor allem beim Concertato im Finale des ersten Aktes ist es umgekehrt: Die Spannung wird gesteigert, wenn dieses Freeze auf der Bühne, dieses gelähmte Erstaunen ein Äquivalent im Tempo findet, einen Beinahe-Stillstand, der aber inwendig vor Energie brodelt.

Können Sie sich noch an Ihr Grundgefühl erinnern, als Sie 2010 an der Wiener Staatsoper debütierten?

Jean-Christophe Spinosi: Ich überwand meine Nervosität durch einen wichtigen Gedanken: Letztlich sind alle Mitglieder des Orchesters zuallererst Musiker, somit Kollegen. Und sie haben genauso wie ich irgendwann entschieden, dass sie die Musik zum Lebenszweck oder zumindest zu einem bestimmenden Lebensinhalt erheben. Dadurch ziehen wir alle am selben Strang – an der Verwirklichung einer Aufführung, die dem Ideal am nächsten kommt.

Andreas Láng


Il barbiere di Siviglia
4., 11. Februar 2018
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La cenerentola
16., 19., 22. Februar 2018
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