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© Uwe Arens

Ein Lebensspiegel in 24 Bildern

Es gibt eine ewige Diskussion darüber, wie dunkel die Winterreise im Grundduktus ist beziehungsweise wie dunkel die einzelnen Lieder atmosphärisch zu verstehen sind, inwieweit es sich um eine Reise zum Tod hin handelt.
KS Simon Keenlyside: Da bin ich ganz anderer Meinung! Ich empfinde die Winterreise viel eher als einen Spiegel, in dem die meisten Menschen wesentliche Facetten ihres eigenen Lebens wiederfinden: Verliebtheit, zerbrochene Beziehungen, Heimatlosigkeit, Geld- und Zukunftssorgen, Freude, Kummer, Verzweiflung, Hoffnung, Einsamkeit u.ä. Jeder im Zuschauerraum wird direkt angesprochen. Natürlich schwingt in den einzelnen Liedern oft viel Melancholie mit, aber dennoch sind die Lieder nicht dunkel, nicht depressiv, sondern letztlich lichterfüllt. Ich erkenne im großartigen Leiermann übrigens auch nicht zwingend den Tod mit dem der junge Mann mitgeht – denn drei Lieder zuvor, wandelt er ja schon über den Friedhof ohne dort letztlich zu verbleiben. Vielmehr ist das „Nun weiter denn, nur weiter“ sein ihn vorwärtstreibendes Motto. Jeder von uns kennt das: Man wacht eines Morgens auf, findet alles unerträglich, meint keine Kraft zu haben, um weiterzumachen – doch schon einen Tag später, sagt man sich: OK, es wird schon irgendwie gehen, es muss irgendwie gehen. Und genau darum geht es in der Winterreise: Ums Weitergehen. Diese 24 Lieder sind ein Zyklus über die Schwierigkeiten im Leben, aber nicht ein Zyklus über den Tod!

Auf jeden Fall ein populärer Zyklus – sowohl beim Publikum als auch bei den Interpreten.
KS Simon Keenlyside: Warum ist Nozze di Figaro so ein großartiges und beliebtes Werk? Weil Mozart hier eine ungeahnte Reife als Komponist erreicht hat. Dasselbe gilt für die Winterreise, schließlich handelt es sich um das Spätwerk des wahrscheinlich bedeutendsten Liederkomponisten überhaupt. Apropos Reife: Wenn ein junger Sänger sich der Winterreise annimmt, wird er im Allgemeinen von der Kritik zerzaust, egal wie gut das Ergebnis ist, weil man ihm nicht abkaufen möchte, dass er für diese Lieder „erwachsen genug“ ist. Und umgekehrt bescheinigt man einem Sänger mit 45 Jahren auch dann eine gültige Interpretation, wenn nicht alles ideal über die Bühne geht – schon merkwürdig, oder?

Nun, wahrscheinlich traut man jungen Interpreten nicht zu, all den psychologischen Tiefenbohrungen die Schubert in der Winterreise unternimmt, nachspüren zu können.
KS Simon Keenlyside: Das hieße aber auch, dass in Wahrheit nur die musikalische Intelligenzija Schubert im Letzten versteht. Und das glaube ich eben nicht. Natürlich ist viel mehr kompositorische und inhaltliche Komplexität in seinen Liedern zu finden, als man vielleicht im ersten Moment zu hören meint. Natürlich hat Schubert die schlichten Texte von Wilhelm Müller als Basis benutzt, um ungeahnte Tiefen zu erreichen, aber nichtsdestotrotz rührt dieser wunderbare Troubadour Schubert zuvordererst stets das allgemeingültig Menschliche in uns an – deshalb lieben wir ihn und nicht, weil er ein musikalischer Vorfahre von Sigmund Freud oder C. G. Jung ist.

Du hast die Winterreise wohl schon über 500 Mal gesungen, gibt es interpretatorische Konstanten die Du in all den Jahren ausmachen konntest?
KS Simon Keenlyside: Ich halte es bei Liederabenden wie bei Opernvorstellungen: Es geht um Spontaneität. Ich ziehe symbolisch meinen musikalisch-technischen Sicherheitsmantel auf der Seitenbühne aus, betrete die Bühne und versuche mich so auszudrücken, wie ich es im Moment gerade empfinde – deshalb ist es müßig, über Konstanten zu sprechen.

Das Gespräch führte Andreas Láng


Solistenkonzert Winterreise | Sir Simon Keenlyside
Klavier: Thomas Adès
19. November 2019

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