Unter den drei Opern, die Francis Poulenc geschaffen hat, beruht seine einzige abendfüllende auf einer historischen Begebenheit aus der Zeit der »Grande Terreur« in Frankreich: Am 12. Juli 1794 wurden in Paris 16 Nonnen hingerichtet, die dem Karmel von Compiègne angehörten. Sie hatten nach der Aufhebung aller religiösen Gemeinschaften durch die Nationalversammlung ihren Glauben gemeinschaftlich weiterpraktiziert, die Anklage des Revolutionstribunals lautete entsprechend auf konterrevolutionäre Praktiken. In der berühmtesten Szene seines Werks — der letzten — hat Poulenc eben diese Hinrichtung vertont, darin nicht nur den literarischen Vorlagen für sein Libretto, sondern auch der Überlieferung folgend: Die Nonnen besteigen das Schafott, das Salve Regina singend. Mit dem Klang des Fallbeils setzt jeweils eine Stimme aus, bis am Ende nur noch eine einzige Sängerin zu hören ist. Als auch diese Stimme vom scharfen Klang der Guillotine unterbrochen wird und kurz darauf eine andere Sopranstimme das Veni creator spiritus anstimmt, kommt jene starke Verquickung historisierender und fiktionaler Elemente an ihren Höhepunkt, die die Dialogues zu einem so packenden Theaterstoff werden ließ und dazu beitrug, dem Werk einen bedeutenden Platz in der Operngeschichte des 20. Jahrhunderts zu sichern.
Im Zentrum des Werks steht jene Figur, die in der beschriebenen Szene den Hymnus an den Heiligen Geist anstimmt, der in der katholischen Kirche bei so bedeutenden Anlässen wie dem Einzug der Kardinäle in die Synode zur Wahl des Papstes gesungen wird: Blanche de la Force. Dieser Charakter ist nicht historisch, sondern eine Schöpfung der deutschen Autorin Gertrud von le Fort, auf deren Novelle Die Letzte am Schafott das Theaterstück Dialogues des Carmélites des französischen Autors Georges Bernanos beruht, das wiederum Francis Poulenc als Vorlage für das Libretto zu seiner Oper diente.
Blanche de la Force entscheidet sich gegen die Bedenken ihrer adeligen, dabei den Idealen der Revolution positiv gegenüberstehenden Familie für das Leben im Karmel — hier erwartet sie sich die Möglichkeit, ein »heroisches Leben« führen zu können. Mit ihrer Wahl des Ordensnamens Blanche de l’Agonie du Christ — Blanche von der Todesangst Christi — wird das zentrale Thema der Oper bereits in der zweiten Szene auf den Punkt gebracht: Die Angst vor dem Tod, zumal in der Verbindung mit der heiligen Agonie Christi im Garten Gethsemane, ist im Karmel im revolutionären Frankreich ein umkämpftes Thema. Da ist die sterbende Priorin Madame de Croissy, die die Angst so sehr überwältigt, dass sie im Todeskampf an Gott zweifelt, was die junge Nonne Constance de Saint Dénis auf Gedanken bringt: »Man stirbt nicht für sich allein, sondern die einen für die anderen; oder sogar die einen anstelle der anderen, wer weiß?« Da ist die neue Priorin Madame Lidoine, die davor warnt, in der Begeisterung für das Martyrium die Demut zu vergessen. Da ist ihr Gegenüber, die Unterpriorin Mère Marie de l’Incarnation, die eben dieser Gefährdung zu erliegen scheint. Und da ist vor allem Blanche, die an jenem angestrebten Heroismus, an dem drängenden Wunsch, »etwas Großes« zu bedeuten, zu verzweifeln droht.
Gertrud von le Fort beschrieb die Figur der Blanche als Ausgangspunkt ihrer Dichtung und als die »Verkörperung der Todesangst einer ganzen Epoche«: Die Letzte am Schafott erschien in Deutschland 1932. Die Fragen nach dem Sterben für etwas und für andere, nach der Angst vor dem Tod, der Beschaffenheit eines bedeutsamen Lebens und der Gestaltung einer Gemeinschaft, die darin verhandelt werden, sind innerhalb des theologischen Kontextes, dem sie entstammen, faszinierend — und reichen weit über diesen hinaus.
Francis Poulenc spürt seinen Protagonistinnen in einer bestechend klaren Partitur nach, die sich wie fast all seine Kompositionen im tonalen Rahmen, konkret in dem eines diatonischen Neoklassizismus, bewegt. Poulenc, dessen große Leidenschaft die Liedkomposition war, ist auch hier ein Komponist der Stimmen und der Sprache: Die Musik dient dem Gesang, der Gesang formt die Charaktere. Der Komponist hat den fünf weiblichen Hauptrollen zur Orientierung fünf große Frauenstimmen der Opernliteratur zugeordnet — Amneris, Kundry, Desdemona, Thaïs und Zerlina. Von diesen Stimmvorstellungen ausgehend kreiert Poulenc Charaktere mit je individueller rhythmischer Diktion und Melodik, die miteinander in die titelgebenden Dialoge treten. Die Lebendigkeit des Werks verdankt sich auch der ausgeprägten Arbeit mit wiederkehrenden Motiven, die das Seelenleben der Figuren in bemerkenswertem Detailreichtum musikalisch fassen: So finden sich etwa mit den Themen »peur«, »anxiété« und »crainte« gleich drei verschiedene Schattierungen des zentralen Topos der Angst.
Dialogues des Carmélites wurde an der Wiener Staatsoper erstmals 1959 aufgeführt, zwei Jahre nach der Uraufführung am Teatro alla Scala in Mailand und der französischsprachigen Erstaufführung an der Opéra de Paris. In dieser Inszenierung der Uraufführungsregisseurin Margarethe Wallmann war Dialogues des Carmélites 1964 zuletzt im Haus am Ring zu sehen. Die Arbeit von Regisseurin Magdalena Fuchsberger und Maestro Bertrand de Billy ist also die erste Neuproduktion von Francis Poulencs Chef d’Œuvre an der Wiener Staatsoper nach mehr als sechzig Jahren.