© Simon Pauly

DER CODE der Musik

Mit Staunen verfolgt man in den letzten Jahren die Karriere des bayerischen Dirigenten Thomas Guggeis. Noch unter 30, ist er designierter Generalmusikdirektor an der Oper Frankfurt, amtierender Staatskapellmeister der Staatsoper Berlin und war zuvor erster Kapellmeister der Staatsoper Stuttgart. An der Wiener Staatsoper debütiert der junge Dirigent nun mit der Wiederaufnahme von Erich Wolfgang Korngolds wunderbarer Toter Stadt und leitet im März auch Vorstellungen von Richard Straussʼ Salome.

Die tote Stadt 

Salome

Walter Benjamin sagte einmal, dass das, was wir mit 15 wussten und lernten, unsere späteren Attraktiva ausmacht. Was war es, was Thomas Guggeis mit 15 wusste und lernte? War es bereits die Musik?

THOMAS GUGGEIS Zweifellos. Ich habe in diesem Alter sehr viel Klavier gespielt und wollte eigentlich die pianistische Laufbahn einschlagen. Das Klavierspiel bringt es nun bekanntlich mit sich, dass man viele Stunden darauf verwenden muss, seine Finger geläufig zu bekommen, um ein Stück technisch zu beherrschen. Ich merkte jedoch bald, dass mich die technischen Probleme eines Werkes in einem deutlich geringeren Maße interessierten als die inhaltlichen Fragen, die es an Interpretierende stellt. Schon damals fand ich es spannend zu begreifen, was ein Werk mir sagt. Wenn ich also heute zurückdenke, merke ich, dass dieses »Was« bereits mit 15 Jahren die zentrale Frage für mich war. Viel später lernte ich jedoch auch, dass man, um ein Stück – vor allem mit einem Orchester – richtig erzählen zu können, natürlich sehr viel technisches Wissen und Können braucht.

Sie haben neben Ihrem Musikstudium auch einen Abschluss in Quantenphysik. Das sind, zumindest auf den ersten Blick, zwei sehr unterschiedliche Fachwelten. Gibt es Berührungspunkte? Was kann der Musiker Thomas Guggeis vom Quantenphysiker Thomas Guggeis lernen?

TG Also eines auf alle Fälle: Musik ist im Kopf eines Komponisten entstanden, der sie in sich gehört und sie – in Notenschrift codiert – aufgeschrieben hat. Denn nichts anderes ist die Partitur: eine verschlüsselte Niederschrift dessen, was erklingen soll. Und ich als ausführender Künstler muss sie wieder in Klang rückübersetzen. Die vielen Fragen, die sich stellen, das sind kleine Rätsel, die es zu lösen gilt! Im Zuge dieser Suche kommt einem das Analytische sehr entgegen. Und nichts anderes macht die Physik: sie versucht, auf grundlegende Fragen zu antworten, durch Analyse, durch klares Denken.

Untersuchungsgegenstand Ihrer Analyse ist also in erster Linie die Partitur?

TG Untersuchungsgegenstand kann alles sein, was uns Information zukommen lässt. Neben der Partitur zählt dazu das Wissen über die Epoche, über die Umstände, in denen das Werk entstanden ist, über den Komponisten oder die Komponistin, den Schaffensprozess. Wichtig ist aber, dass man, wenn alle Fragen so gut es geht beantwortet sind, sie hinter sich lässt und während einer Aufführung, auch einer Probe, ganz frei wird. Die Voraussetzung für diese Freiheit ist allerdings das zuvor erworbene Wissen.

Wie viele von uns habe ich nur sehr rudimentäres Wissen über die Quantenphysik. Aber ich nehme an, dass es auch dort so etwas wie eine belegbare Wahrheit gibt, selbst wenn sie sich nicht leicht vermittelt. Versuchen Sie auch Musik so zu sehen, im Sinne unumstößlicher Grundsätze, die durch Erforschung erfahrbar werden? Oder gibt es in der Musik Nebensonnen, mehrere Wahrheiten?

TG Ich bin nicht so radikal wie Sergiu Celibidache, der meinte, dass nur eine einzige Interpretationswahrheit existiert. Natürlich gibt es Stellen und Passagen, die eine eindeutige Beantwortung fordern. Aber abgesehen von diesen ist Musizieren mehr eine Annäherung an ein Ideal – und das mit vielen Möglichkeiten. Die Wiener Philharmoniker spielen Mozart anders als das Orchestra of the Age of Enlightenment. Aber beide Zugänge sind möglich und richtig! Dazu kommt, dass wir laufend sich ändernden Umgebungsvariablen ausgesetzt sind: Ein besonderes Orchester, ein besonderer Saal, eine besondere Situation, all das erfordert Anpassungen des interpretatorischen Zugangs. In Wahrheit versucht man also in einer ganz spezifischen Kombination aus unterschiedlichen Elementen eine möglichst wahre Übersetzung der Partitur in eine tönende Form zu finden. Das ist ein sehr dynamischer Prozess.

Martin Heidegger entwarf einmal die Idee von zwei Kategorien des Wissens: Das kumulative, also erwerbende, sammelnde und das meditative, das eine Versenkung erfordert. Aus Ihren Worten leite ich ab, dass bei Ihnen zunächst das Kumulative und dann das Meditative kommt. Oder ist das Meditieren im Falle einer Aufführung eher nicht angeraten?

TG Meditieren vielleicht besser vor einer Aufführung! (lacht) Ich meine, dass es sich da um zwei Prozesse handelt, die abwechselnd zum Einsatz kommen können. Wie angedeutet geht es mir einerseits darum, möglichst viel Information aus einem Werk herauszulesen, um mich dann auf das Stück einlassen zu können – und ins Fast-Meditative zu kommen. Man muss zunächst die Sprache eines Werks, einer Komponistin oder eines Komponisten lernen, um zu verstehen, worum es überhaupt geht. Und wenn man die Sprache beherrscht, erschließen sich einem mehr und mehr Details. Aber Vorsicht! Man kann alle Details beantworten und es dennoch nur zu einer unbefriedigenden Aufführung bringen, weil man im Kleinen hängenbleibt. Die richtige Frage lautet: Was bedeuten die Details für das Gesamte, den großen Zusammenhang? Und um das zu verstehen, braucht es eine tiefe Versenkung in das Stück. Man kann das durchaus meditativ nennen.

Es gibt aber auch die Sprache eines Klangkörpers, zumindest eine gewisse Sprachfärbung. Wie lernen Sie diese kennen? Hören Sie sich, bevor Sie zum ersten Mal ein Orchester dirigieren, bewusst ein?

TG Ja, selbstverständlich! Gerade die großen Traditionsklangkörper wie die Wiener Philharmoniker oder die Staatskapelle Dresden zeichnen sich ja durch einen ganz besonderen, ihnen eigenen Ton aus – und diesen gilt es in die Arbeit miteinzubeziehen. Und zwar schon vor der eigentlichen Probenarbeit! Jetzt bin ich wieder bei der vorhin angesprochenen Aufführungssituation: Man muss von Anfang an bedenken, in welchem Raum man in welcher Besetzung welches Werk spielt. Wenn so üppig instrumentierte Werke wie Die tote Stadt oder Salome in einem relativ hohen Graben wie in der Staatsoper gespielt werden, dann muss man sich von Anfang an über die Riesenherausforderung der Balance Gedanken machen. Man muss nachdenken, welchen Weg wir gemeinsam einschlagen, um ein gut durchhörbares Ergebnis zu bekommen. Das geht aber nicht erst, wenn man mit den Proben angefangen hat. Den Orchesterklang muss man schon sehr früh im Ohr haben.

Wenn Sie sich einem Werk wie Korngolds Toter Stadt annähern – welchen Weg nehmen Sie? Über die beeinflussenden Vorgänger, also etwa über Wagner, Mahler und Zemlinsky, oder betrachten Sie Korngold einfach als Korngold und nur aus Korngold heraus?

TG Zunächst gehe ich von dem aus, was Korngold niedergeschrieben hat. Und natürlich versuche ich zu verstehen, was seine Intentionen gewesen sind. Da hilft mir zum Beispiel ein Zeitdokument: Es gibt eine Tonbandaufnahme einer Privatfeier aus den 1950er Jahren, auf der er »Mein Sehnen, mein Wähnen« am Klavier spielt. Man hört, dass er ein Klang- und Effekte-Genießer war, gleichzeitig aber verblüffend unsentimental. Und dabei schreibt er als Anweisung sogar »sentimental« in die Partitur! Doch er persönlich macht das gar nicht, sondern spielt mit der Abgeklärtheit des Alters. Diese Spannung hilft mir durchaus in der Annäherung. Man bekommt ein umfassenderes Bild vom Klang, den es zu erreichen gilt.

Ich schärfe meine Frage nach: Es gibt es so viele Korngold-Bilder, die immer auf etwas anderes verweisen. Maria Jeritza sprach vom »österreichischen Puccini«, andere hören Richard Strauss aus seinen Partituren heraus und so weiter. Was macht aber das eigentlich »Korngoldhafte« aus?

TG Vielleicht die kompromisslose positive Bejahung dessen, was manche heute etwas verächtlich als Kitsch bezeichnen. Aber bei Korngold ist gerade das ehrlich empfunden. Es kommt aus seiner tiefsten Seele. Klanglich beruft er sich, ganz konservativ, auf die großen Komponisten der Spätromantik, gleichzeitig klingt die Salonmusik seiner Zeit immer wieder durch: das damals beliebte Harmonium, das Klavier, das im Orchester über weite Strecken mitspielt. Das ist eine ganz typische Klangwelt, eine musikalische Halbwelt, wenn Sie so wollen. Was mich fasziniert, ist, dass er genau zu dieser – im positiven Sinne – schwülstigen Musik steht, und zwar zu einhundert Prozent! Nichts wird da ironisiert. Alles ist wahnsinnig ernst, ein Herzensanliegen. Gerade davon erzählt ja der wesentliche inhaltliche Konflikt der Toten Stadt, der sich auch in der Tonsprache manifestiert: wie weit darf man sich noch zu einer schönen, aber vergangenen (Klang-)Welt bekennen, und wie weit muss man sich einlassen auf den aufhaltsamen Strom der Zeit? Korngold selbst stand an einer epochalen Schwelle und hat für sich nach einer Antwort auf genau diese Fragen gesucht.

Nun wird Korngold, mit Ausnahme der Toten Stadt, heute leider nur wenig gespielt. Das hat zum Teil politisch-historische Gründe, aber auch große Werke, wie sein Violinkonzert, wurden schon zu ihrer Entstehungszeit in den USA als altmodisch kritisiert. Haben wir einfach schon zu wenig Mut zum Kitsch?

TG Die Tonalität, wie Korngold sie vertrat, ist ja seit mehr als einem Jahrhundert nicht mehr en vogue. Ich selbst bin ein großer Fan der Zweiten Wiener Schule, also vom Kreis rund um Schönberg, Berg und Webern, und dirigiere sehr viel Zeitgenössisches. Aber auch mit größter Freude einen Korngold, der den Willen und den Mut zu einer Musik hatte, die einfach nur schön sein will. Und vielleicht kann man es nicht anders sagen als Sie es andeuteten, dass es heute den Mut zu einer solchen Musik weniger gibt. Andererseits ist gerade Wien eine Stadt, in der man sich am ehesten erlaubt – und das haben wir beim Neujahrskonzert wieder gehört – sich auf allerhöchstem Niveau und mit berührender Begeisterung ganz der Schönheit hinzugeben. Mit einer 120prozentigen Ernsthaftigkeit, ohne Ironie. Daher denke ich auch, dass die Tote Stadt gerade hier so ideal passt: mit diesem Orchester, das diesen wunderbaren, runden, vollen Klang sucht, einen edlen Goldton, der die Musik durchwirkt.

Sie erwähnten das Fehlen von Ironie in Korngolds Musik-Zugang. Darin unterscheidet er sich wohl auch von Richard Strauss, dessen Rosenkavalier zum Beispiel ja auch mitunter »kitschig«, aber das immer mit Berechnung und manchmal mit Brechung ist.

TG Ja, so kann man das sagen. Wobei man bedenken muss, dass Korngold bei der Toten Stadt 23 war und Strauss beim Rosenkavalier genau doppelt so alt. Das macht schon einen großen Unterschied aus, an welchem Punkt seines Lebens man sich befindet.

Bei aller Schönheit – müssen Sie als Dirigent bei einem Werk, das das Schillernde und Berührende als Wesenskern in sich trägt, bewusst einen Schritt zurücktreten? Damit es nicht zu viel Schlagobers wird?

TG Absolut. Ich durfte ja schon mit Strauss einige Erfahrung sammeln, und auch mit Wagner verhält es sich so: Je schlanker man viele Stellen anlegt, auch in der Gestik, desto überzeugender wird es meistens. Weil das Üppige, wie Sie sagten, ja ohnehin schon vorhanden ist. Man darf eine laute Stelle bei Strauss nicht auch noch »laut« dirigieren. Im Grunde ist es so, dass ich als Dirigent die Form bewahren muss. Gerade die großen Klangkörper der Welt – wie das Staatsopern-Orchester – spielen mit einer einzigartigen Begeisterung und Hingabe, zu der man sie nicht extra animieren muss. Das Kanalisieren von Energien ist also die große Aufgabe eines Dirigenten oder einer Dirigentin!

Korngold war von der morbid-beklemmenden Atmosphäre der literarischen Vorlage Rodenbachs angetan und setzte genau diese, verbunden mit psychologischen Anreicherungen, in Klänge um. Ist das auch Teil der Sprache eines Werks, über die wir vorhin sprachen?

TG Ja, definitiv. Ich muss fragen: Was ist der wirkliche Inhalt dieser Oper? Und wenn ich die Antwort in Klänge fassen kann, dann habe ich meinen Weg gefunden.

Und was ist für Sie der wirkliche Inhalt der Toten Stadt?

TG Die wunderbare Zeichnung einer fantastischschillernden Traumwelt, die immer gefährdet über einem doppelten Boden schwebt. Man muss spüren, dass es in diesem Traum das tiefe Absacken in einen Abgrund geben kann. Und wenn es uns gelingt zu zeigen, dass sich der Großteil des Abends im Irrationalen, im Nebulösen bewegt und die teils abstrusen Momente dennoch, wie eben in Träumen, eine große Detailschärfe haben können, dann ist schon viel gewonnen. Und wenn man die Atmosphäre, die Sie eben erwähnten, richtig zeichnet, dann sind auch alle technischen Fragen beantwortet. Denn das ist ja das Schöne bei den großen Meisterwerken: Wenn einmal die inhaltlichen Fragen geklärt sind, lösen sich die technischen von allein.