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Wende Punkte

Als sich am 29. Mai 1913 der Vorhang zu Le Sacre du printemps hob, führte der sich unmittelbar darauf entwickelnde Tumult zu einem der größten Theaterskandale der Geschichte. Verantwortlich dafür war neben der im wahrsten Sinn des Wortes unerhörten Musik von Igor Strawinski (1882 bis 1971) auch die Choreographie von Vaslaw Nijinsky (1889 bis 1950), welche den bis dahin verbindlichen Codex des klassischen Tanzes ignorierte und das Publikum über eine „vorzeitige“, dem heidnischen Russland entstammende Handlung hinaus, auch mit einer entsprechenden Körpersprache, darunter z.B. nach innen gedrehten Zehenspitzen, konfrontierte.

Heute gilt das Werk als eine Ikone der Moderne, 1977 wurde die Musik als Botschafter der Menschheit sogar auf die beiden goldenen Datenträger mitaufgenommen, die mit den Raumsonden Voyager I und II ins All geschickt wurden.

Bemerkenswert ist der Akt der Aggression, mit der sich die Moderne im Fall von Le Sacre du printemps Bahn brach, das Kriegerische und die damit verbundenen unfassbaren Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts, waren in der Kunst der Zeit und den unmittelbaren Reaktionen der Zeitgenossen darauf mit- und vorangelegt.

Auch John Neumeiers choreographische Deutung schöpft, wie in einem Programmheft des Hamburg Balletts betont wird, die verschiedenen Spielarten von Aggression aus dem entsprechenden Potential der Musik. Neumeiers Version entstand in Frankfurt zur Zeit der Studentenproteste; 1972 uraufgeführt, beschreibt sie seinen emotionalen Reflex auf die Musik Strawinskis. Dabei greift die Choreographie keineswegs den der Originalfassung zu Grunde liegenden vorzeitlichen Ritus auf, das heidnische Frühlingsopfer gibt Neumeier zugunsten einer allgemein gehaltenen Idee von Opferung auf. Dabei entwickelt sein Le Sacre jedoch auch keine neue, nacherzählbare Geschichte, vielmehr ersetzen Metaphern eine konkrete Handlung. „Mein Ballett beschreibt vom ersten, einfachen Gehen der Tänzer auf der Bühne den Schritt von ursprünglicher menschlicher Harmonie hin zur Katastrophe, vom Tag in die Nacht, vom Licht ins Dunkel. Nach der Konfrontation mit dem Tod führt der Weg von Verdacht über Aggression und blinde Zerstörungswut zu einem Kampf aller gegen alle, Wahnsinnsausbrüche münden schließlich in einen letzten Verzweiflungsschrei“, erläutert der Choreograph sein Werk.

Tiefste Verzweiflung mag auch Vaslaw Nijinsky empfunden haben, als sich die ersten Symptome seiner psychiatrischen Erkrankung zeigten. Im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen (Kanton Thurgau, Schweiz), welches damals von Ludwig Binswanger (1881 bis 1966) geleitet wurde, der zusammen mit dem österreichischen Psychoanalytiker Otto Rank (1884 bis 1939) als eine der wichtigsten Personen der Frühzeit der Existenztherapie gilt, sollte Heilung gefunden werden.

Genau diesen Zeitraum greift John Neumeiers Fassung von Le Pavillon d’Armide auf: Das Ballett spielt im Pavillon und dem Parkgelände des Sanatoriums Bellevue, in der Dekoration von Alexandre Benois für das Ballett Le Pavillon d’Armide und in der Erinnerung und Fantasie von Vaslaw Nijinsky. Angeregt durch die Gespräche mit seinem berühmten Arzt gibt sich Nijinsky darin seinen Träumen und Reminiszenzen hin, spielt mit kreativen Projekten, die er nicht mehr verwirklichen können wird.

Damit stellt auch Neumeiers Le Pavillon d’Armide keinesfalls eine Rekonstruktion der fast sagenumwobenen, selten gespielten Erfolgsproduktion der Ballets Russes dar, sondern bietet eine Neuinterpretation, die dem Geist des epochalen Ensembles und dessen berühmtesten Tänzerpersönlichkeiten huldigt.

Wendepunkte in der Ballettgeschichte bzw. in der Geschichte der Ballets Russes stellten beide Werkedar: Le Pavillon d’Armide zu Musik von Nikolai Tscherepnin (1873 bis 1945) war das erste Werk der Ballets Russes, das zur Generalprobe am 18. Mai 1909 und tags darauf bei seiner Premiere in Paris aufgeführt wurde, es bildete somit die Visitenkarte des Ensembles am Weg zum Ruhm in Frankreich. Le Sacre du printemps wiederum markierte wiebereits erwähnt den Übergang zur Epoche der Moderne, der eine Revolution der Ballettästhetik und Tanztechnik nach sich zog. Das Werk bildete in der Folge zusammen mit Balletten wie Der Feuervogel und Petruschka, die allesamt aus der Feder Strawinskis stammen und die Trias der so genannten „Russischen Ballette“ dieses Komponisten bilden, den nachhaltigsten und dauerhaftesten Beitrag zum Ruhm der Ballets Russes und deren Stars, an einen derer hellsten – Vaslaw Nijinsky – bei diesem Ballettabend des Wiener Staatsballetts in besonderer Weise erinnert wird.

Oliver Peter Graber


LE PAVILLON D’ARMIDE | Choreographie: John Neumeier
Musik: Nikolai Tscherepnin
Bühnenbildumsetzung: Heinrich Trögervon Allwörden
Lichtumsetzung: Ralf Merkel
Mit: Nina Poláková, Maria Yakovleva, Nina Tonoli, Denys Cherevychko, Davide Dato, Roman Lazik, Mihail Sosnovschi und Richard Szabó

LE SACRE | Choreographie: John Neumeier
Musik: Igor Strawinski
Bühnenbildumsetzung: Heinrich Trögervon Allwörden
Lichtumsetzung: Ralf Merkel
Mit: Rebecca Horner, Ioanna Avraam, Alice Firenze, Eszter Ledán, Eno Peci, Francesco Costa und Andrey Kaydanovskiy
Einstudierung: Janusz Mazon, Alexandre Riabko und Victor Hughes
Dirigent: Michael Boder
Wiener Staatsballett
Orchester der Wiener Staatsoper

Premiere: 19. Februar
Reprisen: 20. Februar, 10., 13., 16. März

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